Donnerstag, 20. Dezember 2007

Wild Thing


„Wild thing, you make my heart sing!“
Aus dem Etablissement dröhnten die ersten Karaoketöne des Abends heraus auf die Terrasse. Dort saß ich mit Heinz, einem deutschen Ingenieur, der bei der NASA arbeitete. Deutsche Ingenieure bei der NASA: Das hatte ja irgendwie Tradition.
Ein wunderbarer Tag neigte sich seinem Ende zu. Zweiunddreißig Grad im Schatten, wenn denn überhaupt irgendwo Schatten gewesen wäre, dunkelblauer Himmel. Das Spaceshuttle war vor ein paar Stunden gestartet, und während Heinz und ich damit beschäftigt waren, den Inhalt eines Pitchers mit einem amerikanischen Bier-Imitat in uns hineinzuschütten, sahen wir dem NASA-Frachter zu, der die beiden abgebrannten Feststoffraketen der Atlantis nach Port Canaveral zurückbrachte. Wie gesagt: ein wunderbarer Tag.

Als sich im Inneren der Kneipe eine Damencombo an „Oops, I did it again!“ versuchte, machte Heinz den dringenden Vorschlag, dass wir uns an einen anderen, gemütlicheren Ort verholen sollten. Mitunter ging der Seglerjargon mit ihm durch, aber ich wusste, was er meinte. Also machten wir uns auf den Weg zu seinem alten Oldsmobile, und knapp zehn Minuten später erreichten wir einen Ort der Subkultur, wobei man hier jetzt nicht diskutieren muss, ob eine Subkultur das Vorhandensein einer Kultur zwingend voraussetzt.
Der nämliche Ort befand sich auf der anderen Seite des Hafenbeckens von Port Canaveral, dort, wo abends die Fischer mit ihrem Fang anlegten. Am Ende des Kais gab es neben einer alten Lagerhalle eine strohgedeckte Hütte, oder besser gesagt: eine überdachte Holztheke. Da tauchte am frühen Abend immer eine junge Dame auf, begleitet von mehreren Kühltaschen, gefüllt mit Bier- und Coladosen. Amerikanisches Kleinunternehmertum vom Feinsten. Und da sie ihrem Geschäft bei Wind und Wetter nachging, wussten die Seefahrer immer, wohin sie nach Dienstschluss gehen konnten, um das Meersalz von den Geschmacksknospen zu spülen.
Und wie das so ist: Wenn sich ein Unternehmen erfolgreich ansiedelt, folgen andere. Heinz dirigierte mich umgehend zu der Lagerhalle. An der Frontseite führte eine Holzstiege hinauf ins Obergeschoss. In einem Raum, in dem früher wohl der Hallenaufseher gehaust hatte, wurden gargekochte Meeresfrüchte offeriert. Heinz orderte mehrere Portionen Krebsfleisch, randomisiert angeordnet auf Papptellern. Als Stammgast wusste Heinz, wie man weiter vorging: Er ging zu einem der roh gezimmerten Holztische, rollte einen Meter Papier von einer bereitliegenden Resterolle ab und verwandelte ihn in die Illusion einer Damasttischdecke. Und kurz darauf erwies sich auch meine Unsicherheit bezüglich fehlenden Essbestecks als unbegründet: An jedem der Tische hingen kleine Holzhämmer an Sisalfäden. Heinz griff sich einen und begann, die Krustentierteile in genießbare Einheiten zu zertrümmern. Der Geschmack passte überhaupt nicht zum Ambiente: Er war grandios! Selten habe ich besseres Krebsfleisch gegessen.

Getränke gab es allerdings nicht. Die gab es unten am Unterstand. Dort waren inzwischen einige Boote eingelaufen, und es begann der Wettbewerb „Wer hat den längsten … äh … Fisch?“ Dazu stellten sich die stolzen Seefahrer mit ihrer Beute neben einer Messlatte auf, und die umtriebige Wirtin schoss Aufnahmen mit einer Digitalkamera.
Heinz bestellte zwei Dosen Bier. Neben uns waren ein paar Männer damit beschäftigt, einen kleinen Eisenring an einem Pendel so in Bewegung zu setzen, dass er einen Nagel in einem Holzbalken traf. Wer es schaffte, kriegte eine Dose Bier.
Einer der Männer hatte ein größeres Bündel tote Fische neben sich liegen, alle so zwischen 30 und 40 Zentimeter groß. Als er mit dem Eisenring auf den Nagel zielte, sagte Heinz: ”Dein Abendessen?“ und deutete auf die Fische.
Käpten Ahab stutzte kurz. „Witzbold! Die fresse ich zum Bier.“
„Was denn, roh?“
Irgendwie gefiel mir das Leuchten in Heinz’ Augen nicht so recht.
„Na klar, roh! Wie denn sonst?“ lachte Ahab.
„Glaub ich nicht.“
Mir stockte der Atem. Die Jungs hier sahen nicht so aus, als seien sie ausschließlich zu Späßen aufgelegt.
Ahab ließ den Arm mit dem Eisenring langsam sinken und musterte Heinz mit dem Blick einer hungrigen Aspisviper. „Wie war das?“
„Glaub ich nicht“, wiederholte Heinz. Ihn schien die Situation nicht zu beunruhigen.
„Fünf Dollar, und ich zeig dir, wie ich die Viecher immer fresse!"
Mit einem kurzen Knall pfefferte Heinz einen Fünf-Dollar-Schein auf die Holztheke. Weiß der Kuckuck, wo er den so schnell hergeholt hatte.
Ahab wunderte sich darüber keine Sekunde lang. Er ließ den Ring fahren, griff sich einen der Fische und biss ihm nachdrücklich den Kopf ab. Nachdem er zwei bis drei Mal gekaut hatte, sah er Heinz triumphierend an. Und nicht nur er. Zwischen seinen Lippen hingen die beiden Fischaugen heraus und glotzten Heinz ebenfalls an.
Der grinste. „Nicht schlecht.“
„Noch mal fünf Dollar, und ich schluck’s runter“, bot Ahab mühsam artikulierend an.
Heinz brauchte fünf Millisekunden, um den zweiten Schein auf die Theke zu hauen.
Ahab begann das abstruse Werk.
Währenddessen sagte einer seiner Kumpane: „Wenn du mir auch fünf Dollar gibst, hau ich ihm eine auf die Schnauze, damit er schneller schluckt.“
Er hatte den Satz noch nicht beendet, da lag der Schein schon bereit. Und ebenso schnell kam Ahab in den Genuss der essunterstützenden Maßnahme.
Jemand anderes sagte: „Die Idioten sollte mal jemand zur Ordnung rufen!“ – und zack! lag der nächste Schein auf dem Tisch.
Fünf Minuten später war Heinz weitere acht Scheine los und die Szenerie glich dem Vorhof zur Hölle. Heinz zog mich am Ärmel hinter sich her zum Auto. Als er Gas gab, sagte er: „An dem Punkt sollte man besser gehen, da wird es ungemütlich.“
Ich war fassungslos. „Woher weißt du das?“
„Mach ich einmal die Woche. Ist doch lustig, oder?“
Ermattet sank ich im Beifahrersitz zusammen. Fünf Dollar! Da fragte man sich, wieso sich der amerikanische Verteidigungsetat der Billionengrenze näherte, wenn man mit Fünf-Dollar-Portiönchen ganze Gesellschaftsstrukturen destabilisieren konnte.
Als wir zur Karaoke-Bar zurückkehrten, intonierte ein Jungmännerchor gerade „Money for nothing“ von den Dire Straits. Das konnte ja noch heiter werden heute Abend.

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©2007 Julius Moll

Montag, 17. Dezember 2007

Betriebsausflug


Als sich meine Gemahlin das Wadenbein brach, hatte ich gleich so ein merkwürdiges Gefühl. So, als ob das nur der Anfang von irgendetwas wäre, was ich noch nicht durchschaute. Dieses Gefühl verdichtete sich zur Ahnung, als ich zwei Tage später ins Wohnzimmer trat und Gesine zum Telefonhörer sagen hörte: „Oh, Herr Schneider, das ist aber nett von Ihnen! Schön, dass Sie das einrichten konnten. Mein Mann wird sich sehr freuen.“ Allein die Tatsache, dass ich noch nicht wusste, worauf ich mich freuen würde, legte das Gegenteil nahe.
„Worauf werde ich mich freuen?“
„Stell dir vor, Herr Schneider hat meine Buchung für die Krimi-Reise auf dich überschrieben und auch noch einen freien Platz für nächstes Wochenende gefunden. Ist das nicht toll? Du magst doch Krimis auch.“
Nun, was soll ich sagen? Hin und wieder lese ich mal einen Krimi, allerdings nicht diese skandinavisch-depressiven Sozialdramen, in denen der Ermittler selbst mit mindestens einem Bein im Knast oder in der Klapsmühle steht und wenigstens zwei uneheliche Kinder hat, von denen eines an der Spritze hängt und das andere von einem Selbstmordversuch zum nächsten hastet. Nein, eher einfach gestrickte Thriller, in denen die Weltherrschaft auf dem Spiel steht und der Held außer seinem Job nur Frauen, Autos und Martinis mit Oliven im Kopf hat. Und nun das!
Gesine hatte sich von einer Freundin belatschern lassen, an einer Krimireise in die Eifel teilzunehmen. Dort veranstaltete jemand Gruppenfahndungen nach einem Mörder, so richtig mit Tatortbegehungen, Indiziensammeln und Beweisauswertungen. Eigentlich wollte Gesine an diesem Wochenende fahren, aber die Verletzung hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und jetzt musste ich das auslöffeln.
„Aber …“
„Nichts aber! Das ist wahnsinnig nett von Herrn Schneider, dass er so kurzfristig etwas tun konnte. Schließlich hab ich schon bezahlt. Und du kannst mir ja alles haarklein erzählen.“
Genau das hatte ich befürchtet. Haarklein erzählen hieß: Haarklein aufpassen, damit mir nichts entging. Gesine hatte inzwischen eine gewisse Routine im Aufdecken von Ungereimtheiten. Dreckskrimis! Und dass ich diesen Herrn Schneider bereits jetzt abgrundtief hasste, brauche ich wohl nicht besonders betonen.

Die Krimigemeinde wohnte in einer Pension am Rande des kleinen Eifelstädtchens. Herr Schneider empfing mich überschwänglich und beeilte sich zu versichern, dass er größtes Verständnis dafür habe, wenn man wegen einer so gravierenden Verletzung seine Veranstaltung absagen müsse. Und dass es ein reiner Glücksfall sei, dass es an diesem Wochenende einen freien Platz gebe. Bei den anderen elf Gästen handele es sich um eine Gruppe, eine Art Betriebsausflug wohl, aber die Herren hätten sicher nichts dagegen, wenn ich den freien Platz einnähme.
Während ich mir Gedanken darüber machte, dass eine Gruppe Herren ein solches Arrangement buchte, wo doch über siebzig Prozent der Krimileser weiblich sind, lief ich auf dem Weg zum gemeinsamen Frühstück gleich einem der Krimiliebhaber über den Weg. Er hieß Luigi Caroni und erinnerte mich an einige der Charaktere, die ich aus meinen Thrillern kannte.
„Hengstenberg“, sagte ich. „Sehr erfreut.“
„Ah, Sie sind bestimmt der Signor, von dem Signor Schneider sprach, oder?“ Sein italienischer Akzent war unüberhörbar.
„Ja, vermutlich.“
Während er sprach, spielte er mit der linken Hand mit irgendeinem Gegenstand in der Sakkotasche seines schwarzen Anzugs. Irgendwo hatte ich das Geräusch schon mal gehört, aber ich kam nicht darauf, wo. War ja auch egal. Vermutlich war es ein Schlüsselbund.
Die anderen Herren sahen so ähnlich aus wie Herr Caroni. Außerdem hießen sie auch so ähnlich. Für einen Moment kam mir der Gedanke, dass sie zu der Inszenierung gehörten, die Herr Schneider hier aufzuführen gedachte. Aber dann trat der nämliche Herr zusammen mit seiner Assistentin in den Frühstücksraum und begrüßte die Anwesenden als Gäste, womit meine Theorie gleich wieder zusammenbrach.
„Ich freue mich sehr, dass Sie uns hier besuchen, um gemeinsam einen Kriminalfall zu lösen.“
Einige der Herren begannen zu tuscheln, und Herr Caroni, der neben mir saß, beugte sich vertraulich zu mir herüber: „Hat sehr viel Humor, il Signor Schneider, finden Sie nicht?“
„Äh, doch, doch“, erwiderte ich eilig, obwohl mir nicht so recht klar war, wie Herr Caroni dies auf Grund des geäußerten Satzes vermutete. Allerdings schien man gegenüber am Tisch eine ähnliche Meinung zu haben, denn dort grinsten zwei Kollegen vor sich hin, während sich der eine mit einem Klappmesser die Fingernägel reinigte. Jetzt fiel mir auch wieder ein, wo ich das Geräusch aus Herrn Caronis Jackentasche schon gehört hatte: In diesem Film mit Bruce Willis, in dem er einen Auftragskiller spielt und immer mit einem Schmetterlingsmesser herumfuchtelt. Langsam gab mir die Gesamtsituation zu denken.

„Wir werden an diesem Wochenende einen Mörder suchen und der Tat überführen“, erklärte Herr Schneider soeben. Ein Raunen ging um den Tisch, und elf misstrauische Augenpaare blickten unter gerunzelten Stirnen auf den Gastgeber. Mein Augenpaar hing an Herrn Caronis Lippen, die leise sagten: „Ein mutiger Mann, der Signor Schneider.“
„Ein Mord ist geschehen!“ verkündete Herr Schneider theatralisch. „Wenn wir mit dem Frühstück fertig sind, werden wir gemeinsam zum Tatort fahren und uns die Leiche näher ansehen. Vielleicht finden wir einige erste Hinweise auf den möglichen Täter.“
Luigi schlug zwei, drei Mal energisch mit seinem Siegelring gegen die Kaffeetasse. „Ich habe eine Frage, Signor Schneider. Wird die Polizei auch dort sein?“
„Äh, nein, nein, Herr Caroni, äh, wir sind ja die Polizei, gewissermaßen.“
Am Tisch brach Heiterkeit aus.
Irritiert fuhr Herr Schneider mit seiner Einführung fort. „Ja, das ist durchaus amüsant, nicht wahr? Nun ja, also, wenn wir den Tatort besichtigt und eventuelle Spuren gesichert haben, werden wir im Dorf einige Zeugen vernehmen können, um weitere Hinweise zu sammeln.“
Die heitere Stimmung verflog schlagartig. Auf der anderen Tischseite unterbrach man die Messermaniküre.
„Welche Zeugen?“ fragte Herr Caroni.
„Nun, in jedem Mordfall gibt es eine Reihe von Leuten, die sachdienliche Hinweise geben können.“ Herr Schneider hatte die Veranstaltung offensichtlich bis ins Detail vorbereitet.
„Aber wir werden sehen … Und bevor jetzt alle ungeduldig werden, schlage ich vor, wir begeben uns zum Tatort.“

Draußen warteten zwei Kleinbusse. Herr Schneider fuhr den einen, den anderen ein Herr Großkurth aus dem Dorf. Zehn Minuten später trafen wir in der Nähe des „Tatorts“ ein. Herr Schneider lotste uns einige Minuten auf einem Trampelpfad durchs Unterholz. Dann erreichten wir eine Lichtung, auf der ein alter PKW stand. Er war ausgebrannt, und es roch deutlich nach verkohlten Türdichtungen und geschmolzenem Armaturenbrett.
Herr Schneider schien irritiert. „Das verstehe ich nicht“, sagte er halblaut.
„Stimmt was nicht?“ fragte ich, Interesse heuchelnd.
„Der Wagen ist abgebrannt!“ Herr Schneider schien um Fassung zu ringen.
„Das ist nicht zu übersehen. Aber ich denke, das ist Ihr Tatort?“
„Das ist er auch. Aber der Wagen ist abgebrannt. Das … das war nicht geplant."
Ich warf einen Blick ins Innere, beziehungsweise in das, was vom Inneren übrig war. Für die „Leiche" brauchte man einen verdammt guten Gerichtsmediziner.
„Fingerabdrücke werden wir an der Leiche jedenfalls nicht finden“, scherzte ich mutig.
Herr Schneider blickte mich an wie eine Kuh, die man soeben in den Fleischtransporter zum Schlachthof eingesperrt hatte. Dann ruckte sein Blick herum zum Wrack. „Eine … eine Leiche. Da sitzt eine Leiche.“
Langsam machte mich der Mann verrückt. Erst inszenierte er hier einen Tatort und dann stammelte er herum.
„Da sitzt eine Leiche“, wiederholte er ungläubig.
„Mensch, Schneider, das sehen hier alle! Hören Sie doch mal auf zu stottern!“
Erschrocken blickte er mich an. ”Wer ist denn das da bloß?“
„Sie meinen, der da im Auto?“
Während er wortlos nickte, begann ich langsam zu begreifen, wo hier der Fehler lag. „Sie haben die Puppe da gar nicht hineingesetzt?“
Er schüttelte verzweifelt den Kopf, und wenn man sich das verkohlte Etwas auf dem Fahrersitzrest genauer besah, wurde die Verzweiflung verständlich. Es war keine Puppe.

Herr Caroni und seine Kollegen waren unterdessen recht guter Dinge und feixten herum. „Gefroren hat er sicher nicht“, sagte der mit dem Manikürestilett und grinste.
„Wahrscheinlich ein Raucher”, fügte sein Kumpel hinzu.
„Man soll eben beim Fahren nicht einpennen, vor allem nicht, wenn man dabei auch noch raucht“, gab ein dritter zum Besten.
Herr Caroni trat näher. „Nun, Signor Schneider, wie können wir jetzt … äh … Hinweise auf den Täter finden? Ist nix mehr übrig!?“
Schneider brachte immer noch kein Wort heraus.
„Vielleicht sollten wir zunächst die Zeugen fragen“, schlug Herr Caroni vor. „Sagten Sie nicht, da wären Zeugen?“
„Wir … wir müssen die Polizei rufen“, sagte Herr Schneider.
”No, no, no! Keine Polizia!" erwiderte Herr Caroni und drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger. “Wir sind doch die Polizei, haben Sie gesagt. Das genügt doch.“
Schneider hob langsam den Arm und deutete ins Auto. „Aber da ist eine Leiche!“
„Bene, aber es ist ja auch ein Tatort“, stelle Herr Caroni zufrieden fest. „Da sind oft Leichen, glauben Sie mir. Ich kenne mich da aus.“
Er erntete einen entgeisterten Blick.
„Aber …“
„Nix aber. Vertrauen Sie mir! Leichen kommen manchmal vor. Was machen wir also?“ Er drehte sich zu seinen Kollegen um. „Entdeckt jemand von Euch einen Hinweis?“ fragte er.
Der Maniküreprofi schürzte die Unterlippe: „Das war ein Volkswagen.“
"Idiot!" herrschte ihn Herr Caroni an. „Wie willst du das erkennen? Wen interessiert das? Halt den Mund und mach dir die Finger weiter sauber!" Er sah wieder zu Schneider. „Dann können wir wohl wieder fahren?“
Bei Herrn Schneider schien sich die Auffassung durchzusetzen, dass alles andere besser war als hier zu bleiben. Er nickte schwach.
Fünf Minuten später erreichten wir die Kleinbusse und hatten ein weiteres Problem: Herr Großkurth fehlte. Schneider sah erst seine Assistentin und dann mich hilflos an. Helfen konnten wir ihm aber auch nicht. Herr Großkurth fehlte weiterhin.
“Wo ist der Fahrer von Bus 2?" fragte Herr Caroni.
Schneider hob kraftlos die Schultern, aber Caronis Krimigruppe schien leicht erheitert.
„Ein elender Schwätzer“, antwortete einer der Herren namens Lombardi. „Hat während der ganzen Fahrt geredet und gefragt. Das mag ich nicht.“
„Was hast du mit ihm gemacht, Idiot? Wo ist er?" zischte Herr Caroni.
Lombardi grinste und sah in die Runde. „Das verrat ich nicht. Hier soll doch gerätselt werden.“
Neben mir fiel Herr Schneider in Ohnmacht, während einer der Krimifreunde die Assistentin einfing, die sich zur Flucht entschlossen hatte.
Caroni sah mich an. „Na, Signor Hengstenberg, wissen Sie, wo der Fahrer ist?"
Nun hatte ich so viele Thriller gelesen, dass mir die Antwort sofort parat lag.
„Welcher Fahrer?“
Caroni lächelte mich an und nickte langsam. „Ein guter Mann“, sagte er dann und tätschelte mir lobend den Oberarm. „Sehr guter Mann!“
Was soll ich sagen: Irgendwie fiel mir ein Stein vom Herzen und direkt in Herrn Caronis Brett. Aus irgendeinem Grund schien er mich zu mögen.
Eine Viertelstunde später waren wir auf dem Rückweg ins Dorf. Der vermeintlich bewusstlose Herr Schneider war auf eine der Sitzbänke verfrachtet worden und setzte während der Fahrt heimlich eine SMS ab. Wir hatten sein Haus soeben erreicht, da trafen auch schon bewaffnete Polizeikräfte ein. Glücklicherweise tat das Herrn Caronis zarten Gefühlen keinen Abbruch, denn er deutete auf den Hof hinaus, wo mein Auto stand. „Machen Sie, dass Sie wegkommen, Signor Hengstenberg. Das hier ist nichts für Sie. Va’, va’!“
Als ich auf der Autobahn war, beschlich mich das verrückte Gefühl, dass Herr Schneider ein geradezu perfektes Krimiwochenende arrangiert hatte, von der Realität quasi nicht zu unterscheiden. Vielleicht hatte ich ihm einfach Unrecht getan.
Kurz vor Abend war ich zu Hause.
„Wie war’s?“ fragte Gesine aufgeregt. „Erzähl doch! Wie waren die anderen Leute?“
„Sehr nett. Eine Gruppe Mafiakiller, die eine Leiche loswerden wollten. Nein, warte, es waren zwei Leichen. Es gab ein ziemliches Durcheinander, das in eine Schießerei mit der Dorfpolizei mündete. Dabei konnte ich entkommen und jetzt bin ich wieder hier.“
„Warum musst du immer so sarkastisch sein? Kannst du nicht einfach normal erzählen, wie es war? Und behandle mich nicht immer wie eine Idiotin, bloß weil dir mal wieder irgendwas nicht in den Kram gepasst hat!“
Na, das konnte ja noch heiter werden. Hatte ich mir eigentlich Herrn Caronis Handynummer notiert?

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©2007 Kölnisch-Preußische Lektoratsanstalt

Mittwoch, 21. November 2007

Westfalenbrauen


Neulich las ich in der Zeitung von einem wirklich schrägen Fall irgendwo in einem Dörfchen im tiefsten Westfalen. Es ging um Liebe, Sex und Leidenschaften, was man in Westfalen gar nicht vermuten würde, und um Pfannkuchen, Tresorknacker und einen sehr alten Teppich, in dem ein unglücklicher Ehemann eine ziemlich unfreiwillige Reise gemacht hat.

Aber der Reihe nach. Ich lese also von einer gewissen Justine, einer durchschnittlichen Hausfrau in einem durchschnittlichen Haus, mit durchschnittlichen Kindern, einem durchschnittlichen Garten und einer durchschnittlich gut funktionierenden Ehe. Bis Franz-Otto in ihr Leben tritt.

Da ist es vorbei mit Justines Durchschnittlichkeit, und sie entflammt derart für Franz-Otto, dass sie bereit ist, alles stehen und liegen zu lassen, um mit ihm durchzubrennen. Franz-Otto, ein Freund der Familie, empfindet nicht minder viel für Justine, doch da ist Eugen, Justines Ehemann und Franz-Ottos Freund. Und der ist dummerweise überdurchschnittlich wertkonservativ: eine Scheidung käme für ihn gar nicht in Frage.

Justine, jetzt vor lauter Lust ganz von Sinnen, schmiedet einen teuflischen Plan: Sie will ihren Mann vergiften. Und so beschließt sie, Eugen eine Freude zu machen und ihm sein Lieblingsessen zu bereiten: Pfannkuchen. Doch dieser Pfannkuchen hat es in sich: Ein starkes Beruhigungsmittel soll Eugen das Lebenslichtlein auspusten.

Doch Eugen ist viel zäher, als Justine es für möglich gehalten hätte: Der wuchtige, über 100 Kilo schwere Stahlarbeiter wird gerade mal etwas schläfrig von dem Pfannkuchen, was Justine geradezu verzweifeln lässt. Ratlos benachrichtigt sie ihren Liebhaber Franz-Otto. Wie der Zufall so spielt, schaut der nach dem Essen herein und lädt Eugen zu einer Spazierfahrt ein. Wäre Eugen Mafioso gewesen, hätten hier spätestens die Alarmglocken schrillen müssen, aber Eugen ist Westfale, und so eine Spazierfahrt durch das schöne Westfalen nach einem fetten Mahl ... das hat doch was.

Vom schönen Westfallen sieht Eugen jedoch nicht viel: In einer stillen Ecke erschießt ihn sein Freund Franz-Otto. Da der nicht so recht weiß, wo er die Leiche verschwinden lassen soll, rollt er sie in einen alten Teppich und verstaut sie im Lieferwagen eines Freundes. Am nächsten Tag will er Eugen dann in aller Ruhe verschwinden lassen.

Als Franz-Otto den Transporter am nächsten Morgen aufsucht, trifft ihn fast der Schlag: Die Kiste ist weg. Was uns zu einer Bande rumänischer Panzerknacker bringt, die mit dem Transporter einige Tage durch die Gegend kutschieren, ohne zu wissen, dass in dem alten Teppich der tote Eugen eingewickelt ist.

Im Nachbarort steigen die Diebe in die örtliche Post ein, klauen den Tresor und fahren damit zu einem einsam gelegenen Sportheim, um ihn dort in aller Ruhe aufzuschweißen. Der Transporter nebst Teppich und Leiche bleiben zurück.

Für die örtliche Polizei, die den Transporter und den aufgeschweißten Tresor finden, eine klare Sache: Einbruch mit einem geklauten Auto. Also Wagen sicherstellen und ab ins Wochenende: Die Spurensicherung erledigt den Rest. Am Montag, versteht sich. Der Stress frisst einen ja sonst auf.

Justine indessen meldet ihren Mann als vermisst, und bekommt Montag morgen prompt einen Anruf. Ihr Mann ist aufgetaucht, unglücklicherweise nicht mehr am Leben ... eingerollt in einen Teppich ... gefunden in einem Lieferwagen ... in der Polizeigarage.

Eugen wird endlich ordnungsgemäß beerdigt. Doch diesmal geht die Polizei nicht ins Wochenende und kommt dem Liebespaar rasch auf die Schliche: Franz-Otto hält dem Druck nicht Stand und gesteht. Und Justine gleich mit. Gerüchteweise haben Franz-Ottos Augenbrauen die Kripo auf die Spur gebracht. Der hatte seinen Opel, in dem er Eugen erschossen hatte, in Brand gesteckt, um Spuren zu verwischen. Und dabei ein bisschen nahe dran gestanden.

Donnerstag, 15. November 2007

Erik, der Zeitreisende


Keine Ahnung, was mich hat aufmerksam werden lassen. Ich meine, sind wir doch mal ehrlich: Wer beachtet schon einen Penner? Auch wenn er immer am selben Platz sitzt. Und normalerweise rück ich auch keine Kohle raus, weil ich der Meinung bin, er könnte genauso gut was tun für seine Kohle, statt einfach die Hand aufzuhalten: schlecht singen, zum Beispiel. Oder schlecht Triangel spielen. Oder schlecht bauchrednern.

Was an jenem Morgen anders war ...? Vielleicht das Geklimper von sehr kleinem Kleingeld in meiner Hosentasche. Mich nervt das. Die Finger riechen nach dreckigem Metall, und kaufen kann man davon auch nichts. Ich hab mal drüber nachgedacht, damit die Enten zu füttern und es Kunst zu nennen, aber das Konzept kam in der Öffentlichkeit nicht gut an. Sonst finden die jeden Scheiß innovativ, aber versenk mal eine fette Ente ... da ist was los!

Jedenfalls hab ich ihm mein klitzekleines Kleingeld gegeben. Gegen meine Prinzipien. Einfach so. Und er sagt: „Danke, Andreas.“
Und ich sage: „Schon gut, Mann.“

Während ich weitergehe, arbeitet es in mir. Kennen Sie die Sekunde, kurz bevor man auf eine Sache kommt? So, als ob man seinem Marmeladenbrot hinterher schaut, das einem gerade aus der Hand gefallen ist. Dann macht es Flatsch und man weiß es: wieso kennt der meinen Namen? Also gehe ich wieder zurück und frage ihn.
Er antwortet: „Wir sind doch Freunde.“
„Wir sind Freunde? Seit wann das denn?“
„In ein paar Tagen werden wir Freunde sein.“
„Aha. Und wieso weißt du dann jetzt schon meinen Namen?“
„Weil du dich mir gleich vorstellen wirst.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Das fragst du mich?“

Es gibt Unterhaltungen, die führen ins Nichts. Und vor allem führen sie dazu, dass man seinen Bus verpasst. Und das wiederum führt dazu, dass man stinksauer zurücklatscht und sich bei dem beschwert, der einen den Bus hat verpassen lassen. Doch bevor ich ihn anpflaumen kann, sagt er: „Du hast den Bus verpasst, ich weiß.“
„Ja, aber das ist nicht der Punkt ...“
„Den 105er, richtig?“
„Ja, aber das ist auch nicht der Punkt ... woher weißt du das?“
Er steht auf und gibt mir die Hand: „Hallo, ich bin Erik, der Zeitreisende.“
„Andreas, hallo.“
Erik nickt grinsend und mir fällt auf, dass ich mich ihm soeben vorgestellt habe. Genau wie er es vorhergesagt hat.

Erik und ich wurden in den nächsten Wochen tatsächlich Freunde. Ich brachte Rotwein mit – und keinen billigen, da Erik schlechten von gutem Rotwein sehr gut unterscheiden konnte, schließlich hatte er viele Jahre die Rotweinherstellung im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert begleitet. Was ihn nicht davon abhielt, einen Grand Cru an den Hals zu setzen und ihn wie Sprudel runterzukippen. Er wusste Erstaunliches zu berichten, weniger über das, was jedermann im Geschichtsbuch nachschlagen konnte, sondern über das, was eben nicht im Geschichtsbuch stand und dort auch niemals stehen würde. Wussten Sie, zum Beispiel, dass Napoleon Frauenunterwäsche trug? Also, ich nicht.
„Und das ist wirklich wahr? Das mit Napoleon?“
„Natürlich ist das wahr.“
„Und was ist mit den anderen ... Stalin, zum Beispiel?“
„Der auch.“
„Was denn? Der auch?“
„Wenn ich’s dir sage.“
„Und ... Katharina die Große?“
„Die trug auch Frauenunterwäsche.“
„Nein, das meine ich nicht. Man sagt ihr Dinge nach. Mit Männern. Und einem Pferd ...“
„Nein, kein Pferd. Da war nur mal ein sibirischer Hauptmann dabei, den nannten alle Pferd, wenn du verstehst, was ich meine ...“

Ich verstand. Und war sicher, nie wieder ein Geschichtsbuch in die Hand nehmen zu können, ohne dass sich Bilder in meinem Kopf manifestierten, die jedes historische Ereignis zu einer Ansammlungen von Perverslingen und Travestiten machte. Trotzdem waren seine Geschichten amüsant, und wenn er sich an etwas nicht mehr erinnerte, schloss er kurz die Augen, sackte ein Stück in sich zusammen und tauchte ruckartig wieder auf.
„Also, ich war noch mal da“, sagte er dann, „und ich versichere dir: Michelangelo schielt.“
„Du hast ihn getroffen?“
„Was heißt hier getroffen? Ich hab ihm zwei Jahre lang assistiert.“
Ich rief: „Du warst gerade mal zehn Sekunden weg!“
Er antwortete ruhig: „Hätte ich dich hier jetzt zwei Jahre warten lassen sollen?“

So ging das die ganze Zeit zwischen uns. Ab und zu tauchte er ab, dann war er wieder da und wusste alles über Galeerensklaverei, römischen Handel, griechische Baukunst, mittelhochdeutschen Minnegesang oder neuzeitlichen Kolonialismus. Und weil ich ihm weiterhin feinen Rotwein servierte und ihn dazu überredete, Gläser zu benutzen, gaben wir beide ein seltsames Bild ab: ein Penner und ein Neunmalkluger, die Rotwein aus teuren Gläsern tranken und sich – an einer Häuserwand sitzend – unterhielten.

Das hätte ewig so weitergehen können, denn die Gespräche mit Erik, dem Zeitreisenden, gaben meinem Tag Struktur und ließen mich immer lächelnd nach Hause gehen. Dann, plötzlich, hatte ich eine tolle Idee, die im Nachhinein betrachtet, die dümmste war, auf die ich je gekommen bin.
„Sag mir die doch mal Lottozahlen von nächster Woche“, forderte ich ihn auf.
Er schüttelte den Kopf: „Ich kann nicht in die Zukunft reisen. Nur in die Vergangenheit.“
Ich kratzte mich am Kinn. „Wenn du in der Vergangenheit bist, musst du doch auch in die Zukunft, um zurückzukommen?“
Erik schüttelte den Kopf: „Nein, ich muss in die Gegenwart. Nicht in die Zukunft.“
„Moment!“ rief ich. „Als wir uns kennen lernten, hast du mir gesagt, wir wären schon Freunde ... also: Zukunft!“
Wieder schüttelte er den Kopf: „Nur, weil du das Hier und Jetzt für die Gegenwart hältst.“
„Sind wir nicht in der Gegenwart?“
„Nein. Aber wir sind auch nicht weit davon entfernt.“
Ich dachte nach: Wenn wir nicht in der Gegenwart waren, dann waren wir in der Vergangenheit. Die ich für die Gegenwart hielt. Und der Rest der Menschheit auch. Das war ja mal eine Neuigkeit! Und ein praktische noch dazu. Man könnte gleich einschätzen, ob ein Geschäftsessen zu einem Auftrag oder ein Date zu einer Liaison führte, oder ein Fußballspiel den Eintritt lohnte. Oder ob deine Zahlen auf dem Lottoschein die richtigen waren.
„Kannst du nicht eine Ausnahme machen? Mir zuliebe?“
Erik zögerte: „Weil du mein Freund bist?“
„Ja.“
„Dein Leben wird sich ziemlich verändern ...“
Ich zuckte mit den Schultern: „Darauf lass ich es ankommen.“
Er zögerte einen Moment, dann sagte er: „Ich kann dir die Zahlen von nächster Woche nicht sagen.

Was er damit meinte, ging mir erst eine Woche später auf, als ich die Schlagzeilen in der Zeitung las: keine Lottozahlen. Die Mischmaschine hatte versagt. Zum ersten Mal überhaupt. Ich lief zu seinem Platz, aber er war nicht mehr da. Und auch nicht am nächsten Tag. Oder am übernächsten. Ich fürchte, er wird nicht wieder zurückkommen. Ich vermisse unsere schrägen Gespräche und den Rotwein auf der Straße. Es hat mein Leben so schön bunt gemacht – jetzt ist es wieder grau. Alles hat sich verändert. Genau wie er es vorausgesagt hatte.

Donnerstag, 8. November 2007

Letzte Ausfahrt: Tiefgarage


Letztens war ich mit meinem Freund Salvatore essen, und als es ans Zahlen ging, lud er mich mit lässiger Geste ein und beglich die Rechnung mit einem Hunderter. Den Rest überließ er der hübschen Bedienung als Trinkgeld: 37,30 Euro. Ich war ziemlich fassungslos, denn Salvatore ist zwar ein netter Kerl, aber er ist für gemeinhin derart sparsam, dass ihn ein Witzbold mal bei Wikipedia unter „berühmte Geizkragen” verewigte. Dabei ist der gar nicht berühmt.

Es ging munter weiter: Cocktail, Zigarre, Szenebar. Alles auf seine Kosten. Was er damit bezweckte, wusste ich nicht, aber dass er etwas damit bezweckte, schien mir mehr als offensichtlich. Was gab es zu feiern? Eine neue Liebe? Ein neues Leben? Schalalala? Ich schwieg, wenn ich auch vor Neugier platzte. Denn Salvatore war für gewöhnlich nicht nur ein Geizkragen, sondern auch ein Geheimniskrämer. In seinem Fall bedeutete dies, dass er mit Dingen selbst herausrückte oder gar nicht.

Also wartete ich.

Irgendwann sagte er: „Du fragst dich sicher, was mit mir los ist?“
Ich zuckte scheinheilig mit den Schultern: „Nein. Ist was los?“
„Ich habe einen neuen Job.“
„Was für einen Job?“
Er zögerte: „Das ist kompliziert ...“
„Aha.

Ehrlich gesagt war alles irgendwie kompliziert bei Salvatore. Als Verwaltungsbeamter im Bauamt hatte er eine Menge mächtig komplizierter Vorgänge zu bewältigen. Da war die komplizierte Kaffeemaschine, die komplizierten Ordner, der komplizierte Schreibtisch, und die komplizierte Beziehung zu Fräulein Schmidt, als Schreibtischunterlage, die immer nur Sex, Sex, Sex wollte. Komplizierten Sex natürlich.

„Du arbeitest nicht mehr auf dem Amt?“ fragte ich erstaunt.
Er antwortete: „Doch.“
„Hast du nicht gerade gesagt, du hättest einen neuen Job?“
„Ja.“
„Und noch einen anderen dazu?“
„Wenn man so will: ja.“
„Wenn man so will?“
„Es ist kompliziert.“

Dann zahlte er und schob mich nach draußen. Was er mir zu erklären hatte, konnte er nur im Auto tun.
„Du hast ein Auto?“, fragte ich verwundert. Denn Autos waren für ihn der Inbegriff der Geldverschwendung. Bisher jedenfalls.
Er nickte: „Ja ... da vorne ...“
Ich sah herüber und entdeckte einen Ferrari.
„Du meinst den Roten da?“
„Ja.“

Wir starteten durch und fuhren scheinbar ohne Ziel durch die Stadt. Zögerlich begann er, mir von seiner Verwandtschaft zu erzählen, die da eigentlich eine gute Idee gehabt hätte, wenn moralisch auch etwas zweifelhaft, aber doch eine gute Idee. Wo doch Beerdigungen so verdammt teuer geworden wären. Mittlerweile musste man schon sein ganzes Leben sparen, nur um einmal ordentlich unter die Erde gebracht zu werden. Das war doch nun wirklich ein Skandal. Ich verstand kein Wort. Wir hielten an einem Hochhaus in einem Neubaugebiet.

„Opa Federico!“ sagte Salvatore, als ob das alles erklären würde. „Du weißt doch: mein Lieblingsopa.“
„Der ist doch seit ein paar Jahren tot.“
„Davon red ich doch.“
„Wovon?“
„Vom Sterben. Und den hohen Kosten. Hörst du mir denn nicht zu?“
„Doch ... es ist nur ... kompliziert.“
Er schüttelte den Kopf: „So kompliziert nun auch wieder nicht ... guck mal da!“

Ich sah aus dem Seitenfenster auf die Ausfahrt zur Tiefgarage. Es war eine sehr schöne Ausfahrt zu einer Tiefgarage. Jedenfalls sagte ich das Salvatore.
„Quatsch!“ zischte Salvatore. „Jetzt! Guck mal!“
Jemand verließ gerade die Tiefgarage und hinter ihm ratterte das Tor wieder herunter. Jetzt konnte ich es lesen: Arrivederci Federico. Als Graffiti.
„Sehr hübsch“, nickte ich, „nur ...“
„Opa liegt da.“
Für einen Moment glaubte ich, nicht richtig gehört zu haben. „Wie: da?“
„Im Fundament.“
„Wie bitte?“
Salvatore zuckte mit den Schultern: „Weißt du, was eine deutsche Beerdigung kostet? Wir wären alle Pleite gegangen. Und jetzt sieh dir das an: Ist es nicht schön? Wir haben den besten Graffitikünstler engagiert. Und jetzt grüßt uns Opa jedes Mal, wenn einer zur Arbeit fährt. Jetzt gib zu: das hat doch was?!“

Wir fuhren weiter, während ich fieberhaft überlegte, ob Salvatore mich gerade auf den Arm nahm oder nicht. Er arbeitete auf dem Bauamt, wusste also von allen Baustellen, die es im Stadtgebiet gab. Und er war geizig bis zum geht nicht mehr. Hatte er das wirklich gemacht?
„Die meisten sind von der Sache begeistert“, sagte er.
„Die meisten?“
„So was spricht sich schnell rum, weißt du?“
„Das heißt, du ... ihr habt noch mehr Leute vergraben?“
„Na ja, überall wo gebaut wird. Schau mal!“
Wir fuhren auf eine Brücke zu, an deren Pfeiler stand: Wilhelm Bungert ist der Größte. Eindeutig von gleichen Graffitisprayer.
„Du kannst dir deine Inschrift vorher aussuchen. Kannst alles haben. Vom einfachen Schriftzug bis zum Graffiti Deluxe. Wir bringen jeden für 299 Euro unter die Erde. Mit einem schicken Graffiti für 399 Euro. Da!“
Wir passierten ein Einkaufszentrum. Hier stand: Ich liebe Maria. Ulla und Deniz. Herbert war hier. Nobody is perfect, Ralfi. Es war unfassbar, wie viele Graffitis ich entdeckte. War mir vorher nie aufgefallen.

„Und wenn die einer wegmacht?“ fragte ich.
„Dann machen wir sie wieder dran. Gehört zum Service.“
„Und warum sagst du mir das alles?“
„Du bist doch gerade nach Berlin versetzt worden?“
„Ja, und?“
„In Berlin wird viel gebaut.“
„Ich bin Städteplaner, Salvatore. Nicht Beerdigungsunternehmer.“
Salvatore seufzte: „Überleg’s dir. Ich krieg da gerade eine Busladung Rentner aus dem Sauerland rein. Die waren noch nie in Berlin.“

Ich schwieg einen Moment. Ließ man den pietätlosen Teil des Unternehmens weg, war es eigentlich ziemlich wurscht, wo man lag. Und dass Kirche und Staat ein Monopol auf die letzte aller Reisen hatten, wäre grundsätzlich mal einen Antrag beim Kartellamt wert. Warum durften die Ferrari fahren und ich nicht? Im übertragenen Sinne, meine ich.

„Ich denk drüber nach, okay?“
Salvatore nickte.
Wir passierten das neue Finanzamt. Dort stand: Markus Großmann klaut bei Aldi.
„Und hast du keine Angst, dass dich einer anzeigt?“
Salvatore zuckte mit den Schultern: „Und was passiert dann? Sie reißen das Finanzamt ab, um im Fundament nach Markus Großmann zu suchen?“
„Hat der wirklich bei Aldi geklaut?“
„Keine Ahnung. Seine Alte hat nicht gezahlt.“

Sonntag, 28. Oktober 2007

Pecunia olet.


Fremde Länder, fremde Sitten: ein Axiom für Weltreisende, Abenteurer, Wissbegierige, Empörte und Arrogante. Aber wir wollen es nicht klein reden. Natürlich ist es spannend, wie sich die Kulturen rings um die Welt entwickelt haben. Denken wir beispielsweise mal ans Essen, und zwar nicht nur deshalb, weil zurzeit im Fernsehen ausschließlich gekocht wird. Dass wir bis an die Zähne bewaffnet sind, wenn wir uns an den Tisch setzen, mit kleinen vierzackigen Hellebarden und Messern aus Metall, hat sich als Prinzip in vielen asiatischen Ländern nicht durchgesetzt. Dort ist man als Gastgeber froh, dass die Gäste den Speisen mit hölzernen Stäbchen zusprechen, und macht sich daher auch gerne die Mühe, das Essen vorher in mundgerechte Stücke zu zerteilen – eine Art Service zum Selbstschutz.
Bei Besitz, Geld und Macht allerdings verschwimmen die kulturellen Unterschiede schon eher. Und die Ideen, wie man seine eigene ökonomische Situation möglichst günstig gestaltet, ähneln sich daher. Das Grundübel besteht ja zweifellos darin, dass man sich sein Geld nicht selber herstellen darf. Das ist zwar rational begründbar, weil es einen Gegenwert für die umlaufenden Zahlungsmittel geben muss. Sonst wären sie selber nichts wert. Und so gibt es im Idealfall eine relativ stabile Gesamtgeldmenge, die irgendetwas Realem gegengerechnet werden kann, im Falle des Dollars beispielsweise dem Gold in Fort Knox und im Federal Reserve Depository in New York. Und so sinnvoll diese volkswirtschaftliche Konstruktion auch sein mag, hat sie doch einen Nachteil: Wenn jemand sein eigenes Geld vermehrt, muss es gleichzeitig jemanden geben, dessen Vermögen dadurch verringert wird.
Es wird daher auch kein Zufall sein, dass das lateinische Verb privare auf deutsch rauben heißt. Ein kleiner Schritt für einen sorgfältig gebildeten Menschen, daraus zu schließen, dass Privateigentum zu Stande kommt, indem der Eigentümer die Gemeinschaft beraubt. Und dass man den Spieß auch umdrehen kann, falls sich die eigene Liquidität einem untolerierbar niedrigen Wert nähert.
Und genau auf diesem Pfad der intellektuellen Untugend wandelten auch zwei Studenten in der chinesischen Stadt Chongqing. Da sie die Schwierigkeiten bei der Finanzierung ihres Lebensunterhalts als schwerwiegend einstuften, entschlossen sie sich zum Handeln. Sie stahlen ein Fahrrad und unternahmen damit ihre Beutezüge, indem sie in der dicht bevölkerten Innenstadt an Passanten vorbeifuhren, einer auf dem Sattel, einer auf dem Gepäckträger, und ihren Mitbürgern leichtfertig mitgeführte Taschen und Pakete entrissen und damit flohen.
Irgendwann muss den Räubern aufgegangen sein, dass zufallsmäßiger Raub nicht immer zu befriedigenden Ergebnissen führt. So beklagten die Beraubten etwa den Verlust von einem rohen Fisch, gerade auf dem Markt gekauft, von einer Papiertüte mit einigen Haarspangen, von einem Beutel mit schmutziger Unterwäsche sowie von einer in Leder eingeschlagenen Katzenleiche, die der trauernde Besitzer eigentlich am Rande eines städtischen Parks beisetzen wollte.
Die beiden Verbrecherhirne taten daher das einzig Logische: Sie änderten ihre Taktik und nahmen sich vor, bei der Auswahl ihrer Opfer selektiver vorzugehen. So lauerten sie mit ihrem Fahrrad an der Ecke einer Sparkasse, in der keineswegs so falschen Annahme, dass Menschen, die aus der Bank heraustraten, durchaus größere Geldbeträge mit sich führen könnten.
So war also die Situation, als Li Ming aus der Bank auf die Straße trat. Die alte Dame war in Begleitung ihres Hundes Changchang, einem gepflegten Pekinesen, und trug am Arm eine große Handtasche. Der Anblick dieser Handtasche befeuerte die Fantasie der Fahrradgangster derart, dass sie wie vom Katapult geschossen auf die Ärmste zuradelten. Der Handlanger auf dem Gepäckträger fischte mit hundertmal geübter Bewegung das größte Paket aus der Tasche, und nach einem Wimpernschlag waren die Meisterdiebe verschwunden.
Wer nun denkt, Frau Li Ming wäre lamentierend und in Tränen aufgelöst auf dem Bürgersteig in sich zusammengesunken, der irrt. Ganz im Gegenteil: Auf ihrem Gesicht machte sich große Freude breit, und bald begannen auch die umstehenden Passanten, sich gegenseitig erheitert in die Arme zu fallen, um sich beim Lachen zu unterstützen.
Was die Fahrraddiebe nämlich nicht wussten: Als Frau Li am Bankschalter in der Reihe wartete, hatte sich Changchang, der Pekinese, nur angekündigt durch ein überstürztes kurzes Bellen, seines Stuhlgangs entledigt. Um den Zorn der anderen Bankkunden zu mildern, hatte sich Frau Li von einem Bankangestellten einige Blätter der Tageszeitung erbeten, um den Hundekot damit aufnehmen und entsorgen zu können. Allerdings hatte der Angestellte darauf hingewiesen, dass er es keineswegs dulden könne, wenn sie das olfaktorisch bedenkliche Gebinde in einem Papierkorb innerhalb der Bank deponiere. So hatte Frau Li das Paket in ihre Handtasche gelegt, um es bei der erstbesten Gelegenheit draußen loszuwerden.
Inzwischen wissen sicher auch die beiden Raubstudenten, dass die Weisheit "Pecunia non olet – Geld stinkt nicht" in speziellen Fällen keine Gültigkeit mehr hat.

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©2007 Julius Moll

Mittwoch, 5. September 2007

Die Dartpilots kommen.


Endlich ist es so weit: "Dartpilots – das Kultbuch für Zufallsreisende" ist erschienen! Und, o Wunder, man kann es auch gleich bestellen, kaufen und lesen (vermutlich in dieser Reihenfolge).
Wo? Ganz einfach: Im Elektrokiosk der Kölnisch-Preußischen Lektoratsanstalt.

Viel Vergnügen!

Das Blog geht nach dieser kurzen Unterbrechung gleich weiter.

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© 2007, Kölnisch-Preußische Lektoratsanstalt

Dienstag, 14. August 2007

Transmongolische Chirurgie


Erik ist ein furchtbar netter Mensch und klug dazu. Das sieht man ihm übrigens schon an. Er erinnert an Dr. Bunsen Honeydew aus der Sesamstraße: leicht schütteres blondes Haar auf einem etwas zu groß geratenen Schädel, der großflächig von einer Hornbrille umgeben wird. Als wir uns kennen lernten, studierte Erik an der Yale-Universität in New Haven, Connecticut, und zwar Medizintechnik. Wir wohnten zusammen in einer Bude.
Irgendwann, ein, zwei Jahre später, rief Erik aus Schweden an. Er hatte gerade sein Studium beendet, all sein Hab und Gut in New Haven gelassen und verkauft, und plante nun als Abschluss der großartigen Ausbildungszeit eine außergewöhnliche Reise, zusammen mit ein paar Freunden. Einer war aber leider erkrankt. Da sei ich ihm eingefallen, immer spontan und zu allem bereit. Ob ich nicht einspringen wolle?
„Wohin soll’s denn gehen?“
„Von Moskau nach Peking und dann über Hawaii zurück, Kalifornien, Ostküste, Europa, der normale Weg eben.“
„Klingt interessant. Aber warum sollte ich mich 473 Tage lang ins Flugzeug setzen? So viele Beine hab ich gar nicht für all die Thrombosen.“
„Wir fliegen ja nicht die gesamte Strecke.“
„Ach nein? Sondern? Fahren wir 10.000 der 40.000 Kilometer mit dem Rad?“
„Nein, mit der Eisenbahn.“
Das sollte vermutlich beruhigend klingen, verfehlte aber die Wirkung komplett.
„Mit der Eisenbahn? Von Hawaii nach San Francisco?“
„Quatsch! Von Moskau nach Peking.“

Das werden Sie nicht gleich verstehen, aber irgendwie beruhigte mich diese Auskunft. Zum einen wusste ich, dass Erik während seiner Militärdienstzeit in einer Abhörstation im hohen Norden gearbeitet hatte und mehrere russische Dialekte fließend sprach, und zweitens habe ich eine bestimmte Vorstellung davon, mit welchen Kisten die russischen und chinesischen Fluglinien inländische Flüge absolvieren. Mit irgendeinem Doppeldecker der Air Sezuan über die Wüste Gobi – nicht mit mir! Wie auch immer, nach einer knappen Viertelstunde hatte Erik mich weichgeklopft und war froh, dass jemand die anteiligen Kosten der Reise übernahm.

Ein paar Wochen später standen wir also zu fünft auf dem Bahnhof in Moskau und warteten auf die Abfahrt des Zuges Nr. 2, "Rossija", nach Wladiwostok. Das ist immerhin knapp 9300 Kilometer entfernt, und die Bahn braucht dafür gut sechs Tage (also etwa genau so lange wie die Deutsche Bundesbahn von Essen nach Köln).

Erik hatte für uns ein Vierer- und ein Zweierabteil gebucht. Hinreichend also, und wir hatten bei sechs Plätzen immer einen frei für einen einheimischen Gast. Der erste war ein nervöser Geist vom Typ ständiger Jungunternehmer, immer auf der Suche nach Geschäftsideen, mit denen er dann scheitern konnte. Soeben hatte er eine Internet-Unterhosenwäscherei in den Sand gesetzt. Logo, Visitenkarten, Homepage, Onlineshop – alles wunderbar, aber die Hol- und Bring-Kosten hatten die aufstrebende Firma ins unwiederbringliche Soll getrieben. Victor bediente seine deprimierte russische Seele mit Wodka, ein Wasserglas nach dem nächsten, und außerdem bediente er uns. Nach rund 3000 Kilometern, also ungefähr in der Mitte zwischen Omsk und Nowosibirsk, hatte ich mehrmals und durchaus unfreiwillig zahlreiche in Wodka eingelegte Portionen kommunistischer Fischeier und Blinis vorverdaut neben der Bahntrasse deponiert – aus dem Abteilfenster und unter Hervorbringung ästhetisch zweifelhafter Würgegeräusche.

Kurz hinter Blagojarsk stapfte Pjotr durch den Waggon. Pjotr war mit Mann und Maus unterwegs zu seinen Schwiegereltern in der Nähe von Jekaterinburg, d. h. mit Frau, zwei Kindern, einer Ziege und zwei Drahtkäfigen mit Hühnern. Beim Halt in Blagojarsk hatte er die Bahnhofstoilette aufgesucht; ein guter Plan, denn die Klos im Zug waren in einem bemitleidenswerten Zustand. Ich kann zwar kein Russisch, aber auf einem der Schilder in den Toiletten stand ganz sicher: „Bitte achten Sie darauf, neben die Schüssel zu urinieren!“ Leider war Pjotr kurz eingenickt auf dem Bahnhofsklo, vermutlich hervorgerufen durch den seelischen Frieden aufgrund der plötzlichen Sauberkeit. Als er wieder erwachte, war sein Zug abgefahren, aber zufällig stand gerade der Gegenzug am Bahnsteig und sah genauso aus wie seiner. Bis ihm auffiel, dass seine Familie nicht mehr vorhanden war, lagen bereits fast 100 Kilometer zwischen den Getrennten. Und dass ein Zug der transsibirischen Eisenbahn umkehrt, um nach einem verlorenen Fahrgast zu suchen, gehört zu den Vorgängen im Universum, deren Wahrscheinlichkeit gegen Null tendiert.

Für uns wurde es erst in Irkutsk, nach fast 5200 Kilometern, wieder spannend. Wir stiegen um in einen anderen Zug, der bei Kilometer 5655 abzweigt und den Weg nach Süden einschlägt: die transmongolische Eisenbahn. Der Zug wurde nun gezogen von zwei Doppelloks vom Typ 2M62, die von allen, die sie mal gehört haben, wahlweise „Taigatrommel“ oder „Stalins letzte Rache“ genannt werden. Glücklicherweise lagen unsere Abteile recht weit hinten.

In Ulaanbaatar, der Hauptstadt, kriegten wir einen neuen Gast, einen schmalen blonden Jüngling, der Oxford-Englisch sprach und als Hilfssheriff in der britischen Botschaft arbeitete. Auf die Frage, wo seiner Meinung nach der langweiligste Ort der Welt sei, deutete er wortlos hinter sich. „Hunderttausend Einwohner, ein Kino.“ Das klang wirklich deprimierend, verblasste aber gegen den Umstand, dass seit der Grenze kein Speisewagen mehr am Zug hing. Vielleicht gab es für diese Zwecke nicht genug Hunde oder Erdhörnchen in der Mongolei.

Wenn man mit dem Auto irgendwo hinfährt, gibt es ja eigentlich nichts Schlimmeres, als wenn das Benzin ausgeht. Bei einer Eisenbahn halte ich es für den größten anzunehmenden Zwischenfall, wenn die Schienen nicht mehr weitergehen. Warum ich darauf komme? Nun ja, mitten in der Nacht näherten wir uns der chinesischen Grenze. Trotz des Lärms der Taigatrommel konnten wir bereits einige Kilometer vorher die Klänge chinesischer Revolutionslieder hören, die aus mächtigen Verstärkern übers Land dröhnten, um die Reisenden musikalisch einzustimmen. An der Grenzstation war es heller als in St. Tropez am Mittag; gigantische Scheinwerfer leuchteten die Demarkationslinie penibel aus. Und siehe da: Das Gleis war zu Ende!

Bislang waren wir nämlich auf der russischen Breitspur unterwegs, 1524 Millimeter breit. In China liegen die Schienen aber nur 1435 Millimeter auseinander, damit die Russen mit ihren Militärtransportern nicht aus Versehen bis Peking fahren können. Da sind die Chinesen dann konsequent: Die Waggons wurden auf schmalere Fahrgestelle umgesetzt. Das Ganze dauerte mehr als eine Stunde, hatte aber eine sehr angenehme Konsequenz: Es gab wieder einen Speisewagen, zudem mit wunderbarer chinesischer Küche. Leider waren nach knapp zehn Minuten alle Fahrgäste dort versammelt, fünfzig Kilometer später war alles ratzekahl leergefressen und es herrschten wieder mongolische Verhältnisse.

Irgendwann erreichten wir Peking. Endlich ein Hotel, ein bisschen Verbotene Stadt, ein bisschen Sightseeing, und dann ab nach Hawaii. So hatte ich mir das vorgestellt, aber ach, wie hatte ich mich geirrt! Erik war nämlich der grauenhafte Fehler unterlaufen, sich von Schweden aus für eine Dreitagesführung durch chinesische Offizielle zu bewerben. Leider hatte er damit Erfolg gehabt. Und erschwerend kam hinzu, dass die chinesische Seite aus Eriks Berufsangabe „Medizintechniker“ geschlossen hatte, er wäre Chirurg. Akribisch hatten sie daher für uns eine Führung durch alle möglichen Pekinger Kliniken organisiert, um uns die neuesten Operationstechniken mit Hilfe von Akupunktur, Yin und Yang, Ayurveda, und weiß der Kuckuck was noch alles zu demonstrieren. Als Gast sagt man ja auch so ungern nein. Und wenn man dann am Operationstisch steht und die Dolmetscherin sagt: „Herr Professor Cheng öffnet jetzt, wie Sie sehen, ohne weitere Betäubung den Brustkorb von Herrn Li und entnimmt zu Demonstrationszwecken für die ehrenwerten Herren Doktoren aus Schweden das Herz“, dann wagt ja auch keiner mehr zu antworten: „Tut mir Leid, aber hier muss ein Irrtum vorliegen.“

Ich bin übrigens von Peking aus direkt nach Frankfurt zurückgeflogen. Irgendwie hatte ich Bedenken, dass uns Erik auf Hawaii als Vulkanologen angekündigt haben könnte.
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© 2007 Julius Moll

Freitag, 3. August 2007

Jetstream


Letztens hatte ich Geburtstag. Jetzt bin ich nicht so ein Typ, der gerne Geburtstag feiert, weil ich die vielen Überraschungen fürchte, die sich die lieben Freunde für einen ausgedacht haben. Doch diesmal hatte ich Glück. Statt Freude über Geschenke zu heucheln, die in diametraler Verkennung meines Charakters erworben wurden, bekam ich eine Ballonfahrt.

Gut, ich habe Höhenangst und neige zur Klaustrophobie, aber solche Ballonfahrten sollen ja sehr sicher sein. So sicher nun auch wieder nicht, sagt mein Freund Willi. Aber runter kommt man immer. Manchmal verteilt auf einer Fläche von mehreren Quadratkilometern. Wili sagt, wenn das passiert, solle man versuchen, im Sturzflug einen Baum anzusteuern. Da hätte man die besten Chancen. Ich frage mich nur: die besten Chancen auf was? Einen Baum von der Krone bis zur Wurzel zu spalten? Eine neue Körpergröße von 1,30 Meter? Windeln auf der Komastation? Ich gebe zu, ich bin zuweilen pessimistisch. Und wir sind auch nicht abgestürzt. Es war alles noch viel schlimmer. Aber ich will nicht vorgreifen.

Wir bestiegen den Ballon an einem herrlichen Sommertag, mit majestätisch blauem Himmel und einem prächtig gewölbten, riesigen Ballon, der prall gefüllt nur noch von einem Anker am Flug gehindert wurde. Meine Frau begleitete mich und redete mir gut zu, als wir mit dreizehn Leuten in den Korb stiegen. Elf Passagiere, ein Kapitän und ein renitenter Rentner, der von seiner Familie in den Ballon bugsiert wurde. Auch ein Geburtstagsgeschenk.

Schon fauchte der Gashahn, der Ballon stieg auf. Wir schwebten davon, kletterten höher und höher und erreichten bald Reiseflughöhe. Es war ein herrlicher Anblick. Es war mild, ruhig, friedlich. Die wunderbare Landschaft unter uns, der Himmel über uns. Alles hätte so schön können ... bis Opa sich meldete. Er sagte nur einen Satz. Und der schlug ein wie eine Kartjusha-Rakete in einen gigantischen Pudding. Er sagte: „Verdammt noch mal, wo ist eigentlich mein Imodium akut?“

Sonst nichts. Und es war, als hätte jemand gegen einen Plattenspieler getreten, der bis dahin nichts als zärtlichen Mozart gespielt hatte. Ich blickte nach unten: 500 Meter. Mindestens. Genau über einer Ortschaft. Und wie der Teufel es wollte, rührte sich kein Lüftchen mehr.

Dann – in die Stille – ein lautes, feuchtwarmes Sprotzen, so laut, als hätte der Ballonfahrer den Brenner betätigt. Hatte er aber nicht. Um Opa bildete sich eine Wolke des Todes und sie griff rasch um sich. Wollen Sie wissen, wie viele Personen auf etwa einem halben Quadratmeter stehen können? Ich sag’s ihnen: es sind genau zwölf. Rasch geriet der ganze Ballon in gefährliche Schieflage. Der Kapitän befahl, sich wieder im Geviert zu verteilen – seinen Platz in der Mitte hatte er allerdings als erstes aufgegeben.

„Runter!“ schrie ich. „Sofort landen!“ Das jedoch ging nicht. Wir schwebten über bebautem Gebiet.
„Dann steigen! Los! Da oben muss es irgendwo Jetstreams geben. Die sind 500 Kilometer schnell!“
„Bis wir die erreicht haben, sind wir alle tot“, sagte der Kapitän.
„Gut, dann schmeiß ich Opa über Bord.“

Sehen Sie, ich hatte nicht vor, Opa über Bord zu werfen, aber der Alte reagierte sofort: Ein explosionsartiges Donnern in seiner Hose ließ uns wissen, dass er Angriffen gegenüber sehr wohl gewappnet war. Seine Augen funkelten mich böse an, so als ob er sagen würde: Versuch’s nur, Freundchen. Da wo das herkommt, gibt’s noch viel mehr.

Da standen wir nun still in der Luft, dieser prächtige Ballon in einsamer Stille eines ihn umgebenden Blaus, und rührten uns keinen Millimeter. Zwölf Mann auf der einen Seite – einer auf der anderen. Der pestilenzartige Gestank hatte den Korb nun vollständig eingekapselt und die Passagiere wie Kätzchen, die man am Genick hochhob, paralysiert. Nur einer hatte seine sichtliche Freude an dem Drama: Opa. Ein diabolisches Lächeln umspielte seinen Mund, und er pfiff fröhlich einen Marsch, weil er wusste, dass er für gewalttätige Übergriffe unerreichbar war. Dann und wann – aus purer Bosheit – ging er in Stellung, nur um sich gleich darauf wieder zu entspannen.

„Gott“, wisperte meine Frau, „Was hat der nur gegessen?“
„Keine Ahnung, aber eins ist sicher: Es war schon sehr, sehr lange tot, bevor er es sich reingeschoben hat.“
„Jetzt tu doch was!“
Ich blickte über den Korb. „Da unten steht ne Tanne. Willi hat gesagt, da hätte man gute Chancen.“
„Willi hat auch gesagt, die Rolling Stones wären die amerikanische Antwort auf die Beatles.“
„Dann bleiben wir eben hier und sterben in Würde.“

Wie lange wir vegetierten weiß ich nicht mehr – ich glaube, ich habe zwischendurch mal das Bewusstsein verloren. Aber irgendwann landeten wir dann doch. Zwölf stürzten förmlich aus dem Ballon heraus, während einer triumphierend aus dem Korb stolzierte. Wir hätten ihn gerne erschlagen, aber niemand wusste, ob er noch eine Ladung intus oder im Ballon nur damit geblufft hatte.

Sein Schwiegersohn und dessen Frau holten ihn ab. Ich hörte noch, wie sie sagte: „Hast du nicht gesagt, die Dinger stürzen ständig ab?“
Er flüsterte: „Als nächstes nehmen wir diese U-Boot-Reisen auf der Barentssee. Auf die Russen ist Verlass ...“ Dann breitete er die Arme aus: „Na, Opa? Wie war die Fahrt? Schön?“

Montag, 30. Juli 2007

Das Zufallsreisebüro


Als Harnfried den Vorschlag erstmals machte, war ich misstrauisch. Ein Zufallsreisebüro zu gründen war nichts, worüber ich vorher intensiv und lange nachgedacht hätte. Wieso auch? Wenn ich verreise, weiß ich eigentlich gerne, wohin. Aber auf den zweiten Blick gewann die Idee an Attraktivität. In einer Zeit, in der die Menschen gelangweilt vom Überfluss nach immer neuer und abenteuerlicher Kurzweil suchen, muss man auch mal unkonventionelle Geschäftsideen vorurteilsfrei prüfen.

„Und wie soll das genau funktionieren?“
„Ganz einfach: Wer eine Zufallsreise buchen will, sagt, wann und wie lange er verreisen will, und bezahlt. Art und Ziel der Reise wird dann mit einem Zufallsgenerator aus dem Gesamtangebot aller Reiseanbieter ausgesucht. Frei nach dem Motto: Wir buchen, Sie fluchen!“
Das hörte sich noch irritierender an, als ich zunächst gedacht hatte, und es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich seinem Drängeln nachgab. Hätte ich es besser nicht getan. Knapp drei Monate später hatten wir schon einen Sack voll Klagen am Hals.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Im Prinzip ist die Idee toll. Aber wir haben ein paar Anfängerfehler gemacht, die sich schnell rächen sollten. Da war zunächst das Rentnerehepaar, das von den jahrelangen, nein, jahrzehntelangen Urlauben in der holsteinischen Schweiz – Wassertreten in Malente, Pferdestallbesuche in Gremsmühlen und so weiter – genug hatte und auf die alten Tage noch mal in die Ferne schweifen wollte. Eine zweiwöchige Canyoning-Tour durch die Wasserfälle im Zentralkaukasus jedoch ging über ihre Kräfte und reaktivierte einen längst vergessenen Bandscheibenvorfall, hinter dem sich sogar der beidseitige Kreuzbandriss der Ehefrau verstecken konnte. Dass sie uns das Fehlen einer flächendeckenden medizinischen Versorgung anlasten wollten, nun ja, das spricht für sich selbst. Im Zentralkaukasus! Da gibt es überhaupt keine Häuser, um eine Arztpraxis unterzubringen, geschweige denn irgendwelche Straßen, über die der Arzt vom nichtexistenten Haus zu den Patienten gelangen könnte.

Im Falle des unter Asthma leidenden Mittvierzigers, der auf Rat seiner Schwiegermutter zunächst einen Aufenthalt in der Klutert-Höhle in Ennepetal buchen wollte, sind die Dinge dann zugegebenermaßen ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Harnfried hatte sich alle Mühe gegeben, den Mann von der Idee des Zufallsreisens zu überzeugen, und im Grunde genommen offene Türen eingerannt. Vermutlich hatte der Ärmste genug von den Ratschlägen seiner Schwiegermutter. Und dann erwischte er diese wunderbare Zehntagesreise mit einer der herrlichsten Eisenbahnen der Welt – von Arica nach La Paz. Immer die Anden hinauf, bis auf fast 5000 Meter Höhe. Die Fahrt über die salzbedeckte Hochebene gehört zum Eindrucksvollsten, was man sich als Reisender erträumen kann – vorausgesetzt, man leidet nicht unter Asthma. Wenn die Waggons wenigstens Fenster gehabt hätten. Dann wäre dem Mann der scharfe, salzgesättigte, trockene Wind erspart geblieben, den die Einheimischen „La Lija de Dios“ nennen, das „Sandpapier Gottes“.

Sie werden fragen, warum wir nicht wenigstens dafür gesorgt haben, dass während des sechsstündigen Aufenthalts an der Station La Desesperación, malerisch mitten auf der Hochebene gelegen, ein Medikopter den Atemwegsgepeinigten aus der Höhe und den Klauen von La Lija de Dios errettet. Nun, das hat etwas mit Physik zu tun. In diesen Höhen tragen Hubschrauber nur mehr bedingt. Krankenwagen könnten zwar theoretisch fahren, aber ich bitte Sie! Woher hätte ein solcher herbeikommen sollen? Aus Santiago de Chile etwa? Die Situation war eben einfach verfahren.

Apropos verfahren: Das ist ja ein Aspekt, den man nicht verkennen sollte. Verfahren kann man sich ja nur, wenn man weiß, wohin man eigentlich will. Bei Zufallsreisen ist das nun eben nicht der Fall. Und da kann man gegen das Prinzip sagen, was man will, eines steht fest: Verfahren in diesem Sinne kann man sich auf einer Zufallsreise nicht. Man spart sich daher alle guten Ratschläge der Beifahrer/innen, was ja allein schon einen gewissen Urlaubseffekt bewirken kann.

Und damit Sie nicht denken, jede gebuchte Reise sei ein Reinfall gewesen, möchte ich noch dies erwähnen: Einem Oberstudienrat und seiner Frau war ein einwöchiger Bildungsurlaub zugelost worden. Es handelte sich um ein wirklich schönes Paket von El-Nino-Reisen: „Überflüssige Klischees: Tauchen zwischen Piranhas“, ein Reisetipp der Volkshochschule Tuttlingen. Übernachtung in einem verlassenen Kopfjägerdorf in stilechten Pfahlbauten direkt im Sumpfgebiet; alle Visa und Impfungen inklusive. Der Oberstudienrat kehrte glücklich und zufrieden zurück – und zwar alleine. Das Klischee hatte nicht getrogen. Vermutlich rein zufällig.

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©2007 Julius Moll

Sonntag, 29. Juli 2007

Astralreisen


Nachdem im Februar ja die Waschmaschine kaputtgegangen war und im April ein Rabauke den Außenspiegel des VW-Golf abgefahren hatte, war sonnenklar: Der Sommerurlaub im Allgäu stand gehörig auf der Kippe. Ohne Waschmaschine ist das Leben quasi wertlos, und Inge musste schließlich einsehen, dass die allgemeine Verkehrssicherheit ohne Außenspiegel nicht zu gewährleisten war. Die Rettung zeichnete sich aber völlig überraschend in der vorletzten Woche ab, als ich nach einem Bier und ein oder zwei Korn versehentlich in die Buchhandlung abbog (die haben da die gleiche Haustür wie ich zu Hause).

Mehr aus Mitleid kaufte ich irgendwas preiswert Aussehendes aus einem zufällig auftauchenden Grabbelkorb und verschwand schleunigst; glücklicherweise, ohne peinliche Fragen beantworten zu müssen. Erst am Samstag fiel mir mein Kauf wieder in die Hände. Ich konnte den Rasen bei nasskalter Witterung unmöglich mähen, und das Schlafzimmer war wegen Staubsaugens gesperrt. Ich blätterte in dem Buch über Astralreisen, bis mir plötzlich die Schuppen von den Augen und das Buch aus den Händen fiel: Astralreisen kosten nichts, lassen sich beliebig oft und an jedem Wochentag durchführen, und das Wetter spielt eigentlich keine Rolle. Lastminute, sozusagen, gab es für Inge eine Kurzeinweisung und für mich einen Klaren als Belohnung.

Vielleicht war ein Astralstreik daran schuld, dass die Reise dann nicht so richtig beginnen konnte. Inge hatte keine Lust, länger auf den transzendenten Zustand zu warten, weil ihre Ärzteserie im Fernsehen kam, und ich hatte einige grundsätzliche Schwierigkeiten beim Start. Mit Klaus und Manfred arbeitete ich abends in der Eckkneipe nochmals die Gebrauchsanweisung durch. Die beiden sind praktisch Profis. Klaus fährt sogar einen Astra. Und genau wie in dem Buch beschrieben, konnte ich meinen ersten Zielort nicht erkennen, ganz genau genommen konnte ich mich auch nicht an alle Details erinnern. Aber es war warm und es wurde laut gesungen, soviel steht fest. Wahrscheinlich Ibiza, Kuba oder so was in der Art. Das Lied ging mir jedenfalls den ganzen nächsten Tag im Kopf herum.

Insgesamt war dieser Urlaub eine gelungene Sache. Inge blieb zu Hause (obwohl es ja rein kostenmäßig völlig egal gewesen wäre), und ich verbrachte neun Tage meiner zwei Wochen Urlaub an den merkwürdigsten Plätzen. Rein gewohnheitsmäßig startete ich immer in der Eckkneipe. Jetzt, wo ich wieder arbeiten muss, vermisse ich die Astralreisen richtig. Aber nächsten Sommer ...

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©Harnfried Schoßmüller-Knappentropf

Donnerstag, 12. Juli 2007

Im Zeichen der Gehörnsäge


Dreizehntausend ist eine durchaus imponierende Zahl. Man versuche sich vorzustellen: 13.000 Paar Schuhe im Schrank, 13.000 Pickel im Gesicht, 13.000 Mücken im Schlafzimmer – im Grunde genommen recht überwältigend. Bei 13.000 Sandkörnern oder 13.000 Euro relativiert sich das Ganze ein wenig, wenn man eine Sandburg oder ein Haus bauen will. Bei 13.000 Menschen kommt man schon wieder ins Grübeln. So viele gehen aber immerhin in die Fankurve eines anständigen Fußballstadions.
Warum ich mich auf die 13.000 kapriziere? Nun, die Hauptstadt von Süd-Dakota heißt Pierre und hat diese Zahl an Einwohnern. Eine einzige Fankurve als Hauptstadt – welch deprimierende Vorstellung! Das kann aber unmöglich der einzige Grund sein, warum Pierre vor einigen Jahren als „Suicide City“ betitelt wurde: Die Selbstmordrate hatte bedrohliche Werte erreicht. Sucht man nach Gründen, wird man schnell fündig und kann sich kaum entscheiden, welcher der gewichtigste sein könnte.
Zwei Kandidaten stehen sicher in der engen Wahl. Zunächst einmal gibt es in Pierre ein State Capitol; es sieht aus wie das Capitol in Washington, ist aber dreizehntausendmal kleiner. Dort spielten sich schon früher deprimierende Dinge ab. Zunächst verlor Deutsch bei der Abstimmung über die Amtssprache mit einer Stimme gegen Amerikanisch, aber das mag man im vernetzten elektronischen Zeitalter ja gerne verschmerzen. Weitaus deprimierender ist ein großer Vitrinenschrank im ersten Zwischengeschoss. Dort sind Miniaturroben ausgestellt. Es handelt sich um die handgefertigen Kleinreplikas der Abendkleider, die die Frauen der jeweiligen frischgewählten Gouverneure bei der Amtseinführung ihrer Gatten trugen. Vermutlich waren alle Einwohner Pierres an der Herstellung dieser Kleinode beteiligt, manche sicher zwangsweise. Ich denke da an den männlichen Teil der Bevölkerung, der sonst am nahe gelegenen Lake Oahe im Sommer mit Fischen und im Winter mit Eisfischen reichlich zu tun hat.
Gleich in der Nähe von Pierre liegt die imaginäre Linie, die die Central Time Zone von der Mountain Time Zone trennt. Wenn man da auf der falschen Seite des Sees fischt, ist man ruckzuck eine Stunde später daheim, wenn man nicht aufpasst. In der Zeit hätte schon eine weitere Rüsche eines Mini-Abendkleides fertig sein können.
Zieht man die einzig vernünftige Konsequenz und verlässt Pierre mit dem Auto Richtung Norden, so beginnt man nach 50, 60 Kilometern die 13.000 Zurückgelassenen zu vermissen, denn die einzigen Lebewesen, die man hin und wieder zu Gesicht bekommt, sind braun und tragen Gehörn. Der erste Ort nach längerer Autofahrt heißt Onaida, und genau so sieht es dort auch aus. Zur Ermittlung der Einwohnerzahl muss man 13.000 durch 100 teilen, wenn Sie wissen, was ich meine.
Einsame Kilometer weiter taucht wieder ein Schild aus dem Bodennebel auf: Agar, Population: 82. Die sind wenigstens ehrlich. Wie oft sie die Einwohnerzahl korrigieren, weiß man nicht. Aber sie kann unmöglich ständig bei 82 liegen. Ich habe dennoch angehalten – und wenn ich erkläre, warum, wird man vermuten, dass ich zu lange in der Gegend geblieben bin, um ohne geistige Beeinträchtigung heimkehren zu können.
Vielleicht sollte ich zur Erhöhung der Pointe zunächst darauf hinweisen, dass es Winter war in Süd-Dakota. Das ist noch deprimierender, als man zunächst glauben mag. Dadurch wird aber erklärlicher, dass ich an eine Art von Einsamkeitshalluzination glaubte, als hinter einer Schneeböschung ein Straußenkopf auftauchte und mich neugierig beäugte. Da hätten Sie auch angehalten und wären die paar Schritte die Böschung hochgeklettert, geben Sie's ruhig zu! Ich kannte zwar die Regel „Wo man zehn Mäuse sieht, sind noch hundert andere“, aber die Regel „Wo dich ein Strauß anblickt, sind noch tausend andere“ kannte ich bis dato nicht.
Mitten im Winter! Die armen Vögel. Als sie mich bemerkten, kamen sie alle – ich wiederhole: alle! – auf mich zugerannt; und ich vermute, Sie ahnen, was das bei Straußen heißt. Verdenken konnte ich es ihnen nicht: Vermutlich war ich außer ihrem Herrchen der erste Mensch, den sie seit Jahren zu Gesicht bekamen.
Wegen des lauten Straußengalopps tauchte auch bald der besorgte Straußenbesitzer auf, der natürlich eine Flinte in Händen hielt. Da ich keinen Laufkorken bei mir trug, um ihn vorne hineinzustecken, damit sich der Schuss nach hinten löse, wurde mir durchaus mulmig. Glücklicherweise stellte sich früh genug heraus, dass der besorgte Vogelhändler deutsche Vorfahren hatte und daher keine direkte Veranlassung mehr sah, einen – ja, wie nennt man das in diesem Falle: Stieflandsmann? Schwiegerlandsmann? Na, ich weiß nicht! – Menschen zu treffen, der so sprechen konnte wie sein Vater (der Herr habe ihn selig).
Bei einer heißen Ovomaltine erzählte er mir, dass er außer Straußenzüchter auch noch Jäger sei. Da gebe es genug Arbeit in dieser Gegend. Sein Waffenschrank hatte die Ausmaße einer Kölner Eigentumswohnung. Auf dem Couchtisch lag ein Katalog für Jägerbedarf, in deutscher Sprache von einem deutschen Händler. Arthur, so hieß der Oberstrauß, dachte gerade über die Anschaffung eines Wildkühlschranks nach. Zunächst verstand ich das Wort nicht auf Anhieb und hätte schwören können, dass er „Wildkühlschrank“ gesagt hatte. Wie sich herausstellte, hatte ich ihn richtig verstanden. Begeistert zeigte er mir den Artikel im Katalog. Tatsächlich, ein Wildkühlschrank!
„Elektrolux Umluft-Wildkühlschrank – Zur schnellen Abkühlung von zwei Stück Rehwild oder einem Stück Schwarzwild (bis ca. 65 kg) nach den Vorschriften der Fleischhygieneverordnung. Temperaturbereich von 1° bis 12°C. Bruttoinhalt 368 Liter. Wechselbarer Türanschlag. Abschließbar. Mit Laufrollen und verstellbaren Füßen. Innenbeleuchtet. Wildgehänge mit zwei Schiebehaken und 4 Regalböden. FCKW-frei. Außenmaße 59,5x59,5x185 cm, Innenmaße 52,5x48,0x160 cm (BxTxH). € 1070,–“
Die Angabe „mit Laufrollen“ fand ich besonders interessant. Bis dahin hatte ich ja gedacht, der ordentliche Waidmann habe das Gerät bei sich zu Hause im Keller stehen. Nun begann ich jedoch in Erwägung zu ziehen, dass man die Kiste während der Jagd hinter sich her ziehen könnte, um das Wild vor Ort zu kühlen. Allerdings gab es im gesamten Katalog keine einzige olivgrüne Wildkühlschrank-Tarnabdeckung, denn wenn man mit diesem riesigen weißen Ding im Wald auftaucht, lachen sich die Rehe ja einen Wolf! Meinen weiteren Einwand, dass man bei –15 Grad keinen Kühlschrank bräuchte, entkräftete Arthur mühelos: „Im letzten Sommer hatten wir fast 45 Grad im Schatten.“ Dann allerdings …
Nun hatte der Katalog noch mehr zu bieten; Dinge, an die ich vorher ehrlich gestanden noch nie gedacht hatte: „Gehörnsäge mit Abschlagevorrichtung und Rundstab-Sägeblattführung. Kein Verhaken und Verkanten der Säge. Das Sägeblatt bleibt dadurch länger scharf! Gleichmäßiger, glatter Schnitt, der nicht mehr nachbehandelt werden muss. Die Trophäe passt genau aufs Schild! Einstellmarkierung – dadurch exakte Einstellung des Schnittwinkels. Verzinkte Ausführung. € 39,95“ Und dazu noch den ergänzenden Artikel „Ersatzsägeblatt mit Griff, € 8,50“, der mich an den berühmten Katalogeintrag einer Antiquitätenauktion erinnerte: „Antikes Messer ohne Griff, dem die Klinge fehlt.“
Zugegebenermaßen war mir vorher auch nicht recht klar gewesen, dass man Wildteile nach dem Ermorden nicht einfach zu Trophäen zurechtsägen sollte, weil dann das anhaftende Restgewebe zu verwesen beginnt. Nein, nein! Doch die Lösung ist ja so einfach: „Abkoch-Vorrichtung für Trophäen – Zum sauberen, bequemen Abkochen von Reh-Gehörnen, Gamskrucken usw. Einfaches Anbringen durch gummiarmierte Halterung und Flügelschrauben. Stufenlose Verstellmöglichkeit in 4 Richtungen. Korrosionsgeschützt, die Armierung besteht aus wasser-, hitze- und fettbeständigem Spezialgummi. € 29,95“ Darauf muss man erst mal kommen! Die Trophäenpräparation geht so zweifellos sehr leicht von der Hand.
Ich bin dann nach Norden weitergefahren.
Da kommt man dann – Sie werden es ahnen – nach Nord-Dakota. Und wenn Sie wissen wollen, warum das die Gesamtsituation nicht verbessert, sehen Sie sich den Film „Fargo“ an. Ich versuche derweil mal herauszufinden, ob es auch fahrbare Bierkühlschränke gibt.
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©2007 Julius Moll
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Sonntag, 1. Juli 2007

Therapeutische Anschläge


Ja, muss man denn wirklich immer in die Ferne schweifen, um stimulierende Eindrücke zu sammeln? Nein, muss man natürlich nicht. Man kann, aber man muss nicht. Zudem ist "Ferne" ebenso relativ wie alles andere in diesem Universum. Geht man beispielsweise zu Fuß von Köln nach Bonn, ist es recht fern. Fährt man dagegen mit dem Auto von Köln in Richtung Süden, hat man Mühe zu merken, dass da überhaupt eine Stadt ist.
Aber ich schweife ab. Der oberbergische Kreis ist nicht wirklich weit entfernt von Köln. Dort gibt es einen Flecken namens Rebbelroth, gelegen zwischen Derschlag und Dieringhausen. Zugegeben: Man muss diese Orte nicht kennen; zusammen sind sie etwa halb so groß wie der Friedhof von Chicago. Aber dann läuft man eben Gefahr, wirklich wichtige Erkenntnisse zu verpassen.
In Rebbelroth findet sich nämlich neben der Ausfahrt des örtlichen Supermarktes etwas fundamental Beeindruckendes: eine "Anschlagsäule für Jedermann". Als ich die Säule erstmals sah, war ich mir sofort der glücklichen Fügung bewusst: Die Säule war unversehrt, und das bedeutete, dass in letzter Zeit niemand einen Anschlag verübt hatte.
Die tiefe philosophische Einsicht dieses nachahmenswerten Plans der örtlichen Verwaltung lässt einen in stille Andacht verfallen. Aggressionsableitung als Prophylaxe, um Schlimmeres zu verhindern: allein als Idee lobenswert, hier aber zudem noch brillant umgesetzt. Wem schwillt nicht hin und wieder der Kamm? Praxisgebühren, Benzinpreis, Irakkrieg, Umweltverschmutzung, Flughafengebühren, Ozonloch, Kapitalismus, Kommunismus, Raucher, Nichtraucher, Atomkraftwerke, Windräder, Kölner, Düsseldorfer, Moscheen, Sonntagmorgenglockengeläut – es gibt immer etwas, was einen auf die Palme bringen kann. Warum dann gleich in den Extremismus abgleiten? Da reicht es doch völlig aus, wenn man die nächste Anschlagsäule in die Luft jagt. Niemand wird verletzt, und die Dinger können umgehend und preiswert ersetzt werden, damit sie dem nächsten unzufriedenen Mitbürger zur Verfügung stehen.
Natürlich wäre Anleitung von Nöten. Dabei könnten auch Varianten dieses Modells vermittelt werden. Volkshochschulen könnten Praxisseminare für stark Unzufriedene anbieten, in denen alte Autos mit Nagelbomben vollgepackt werden – ohne Zünder, versteht sich –, um diese dann in irgendeiner Innenstadt abzustellen. Da wäre dann zumindest der seelische Druck weg, dass man nichts getan hätte, um sich zu artikulieren, aber niemand käme zu Schaden.
Und warum ins Auto oder Flugzeug stürzen, wenn man denkt, man sei komplett urlaubsreif? Wenn in jeder größeren Ortschaft eine Art Sandkasten mit Strandkorb und einer Tasse Sangria bereitstünde, würde das die Touristenscharen deutlich dezimieren helfen. Niemand mehr müsste gleich den erstbesten freien Tag opfern, um nach Mallorca zu jetten.
Während ich diese tief schürfenden Gedanken in die Tastatur tippe, schimpft drei Meter hinter mir auf einem Zweig Frau Rotkehlchen. Den Ton kenne ich. Den schlägt sie immer an, wenn ihr Gatte nicht genug Futter heranschaffen hilft. Und ihn habe ich in der letzten Stunde weder gesehen noch gehört. Vermutlich hängt er mit Herrn Meise an irgendeinem Rinnsal herum und pfeift irgendwelchen Bachstelzen nach, dieser Tunichtgut. Die Schimpfkanonade seiner Gattin wird intensiver. Vermutlich hätte auch sie gerade eine Verwendung für eine Anschlagsäule.
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©2007 Julius Moll
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Freitag, 29. Juni 2007

Gullyboy aus Guatemala



Wer reist, bringt nicht selten was mit nach Hause. Fotos machen die meisten und quälen anschließend ihre Freunde mit Vorführungen oder Geschichten ohne jede Pointe. Geschichten, die in aller Regel damit anfangen: „Also, da muss ich dir eine Geschichte erzählen, da schlackerst du mit den Ohren ...“ Was dann kommt, ist an Ödnis nicht mehr zu übertreffen, und wenn man mit den Ohren schlackert, dann nur deswegen, weil man im Durchzug steht.

Andere, die Wagemutigen, essen wie die Einheimischen, probieren alles aus und verbringen viel Zeit auf dem Klo. Es gibt eigentlich nichts Unterhaltsameres als einen politisch korrekten Deutschen, der im indonesischen Dschungel das von einer alten Frau vorgekaute, in einer schmutzigen Schüssel zu Alkohol gegorene Maniok auf Ex kippt, um zu beweisen, dass er fremde Kulturen respektiert.

Wieder andere halten sich am Hotel schadlos. Ich kannte mal einen, der räumte sämtliche Hotels leer, wenn er abreiste. Nicht nur Bademäntel und Seife. Einfach alles. Bettzeug, Fön, und wenn der Koffer groß genug war: den Fernseher. Er fand, dass Hotelpreise generell zu hoch angesetzt waren und dass er ein Recht auf die Sachen hätte.

Ich ging eine Weile zu einem Frisör, der alle seine Reisen auf einer großen Weltkarte markiert und dann im Frisörsalon aufgehängt hat. Darüber stand: Alle meine Reisen.

Und dann hätten wir noch die Sammler. Und man kann 'ne Menge Sachen sammeln: afrikanische Fruchtbarkeitsgöttinnen, Tiere jeder Art, meist jedoch Elefanten, Aschenbecher, Geschlechtskrankheiten. Je bekloppter, desto besser.

König der Skurrilitätensammler, auf den ich letztens im Internet gestoßen bin, ist ein Mann, der Gullydeckel sammelt. Im Gullyversum gibt es alles. Gullydeckel aus Antigua oder Grenoble, Tripolis oder Mannheim. Einfach überall her. Die Kuriosesten nennt er Mutationen. Die Frage sei erlaubt, wer da wie und wann zu was mutiert ist.

Sie können sich, wenn Sie wollen, den Gullydeckel Ihres Herzens übrigens anfertigen lassen. Da fehlt dann zwar ein bisschen der Stallgeruch – und das kann man in diesem Fall fast schon wörtlich nehmen –, aber bevor Sie sich mit der Polizei in Guatemala anfeinden, weil Sie nach Mitternacht auf der Hauptverkehrsstraße an einem Gullydeckel rummachen, bedenken Sie eins: Die Dinger wiegen bestimmt 80 Kilo und Ihre vierköpfige Familie müsste nackt zurückreisen, weil Sie das Übergepäck nicht bezahlen können.

Falls doch, sagen Sie mir Bescheid. Ich mache dann ein Foto vom Gullyboy aus Guatemala. Dann hätte ich mal 'ne Story, dass alle mit den Ohren schlackern.

Montag, 7. Mai 2007

Satanische Pudel


In Japan kennt man keine Schafe. Vielmehr hat man da nicht so große Erfahrungen mit Schafen. Was ich erstaunlich finde, denn das gemeine Schaf ist außer im Dschungel oder in der Wüste recht oft zu finden, und man kann ja kaum behaupten, dass Japan Sumpf- oder Wüstengebiet wäre.

Warum ich das erwähne? Weil ich letztens Zeitung gelesen habe. Und was glotzt mich da auf einem riesigen Foto an? Ein Schaf, richtig. Also genauer gesagt: ein Lamm. Nur sah es nicht aus wie ein Lamm, sondern wie ein Pudel. Sie wissen schon: toupierte Haare, rasierte Kränze um die Füße, Lockentolle und Bömmelchenschwanz. Zum Schießen.

Noch erstaunlicher war der Bericht zum Bild, denn das rasierte und toupierte Lämmchen wurde von einem Polizisten in die Kamera gehalten. Als Beweisstück, quasi. Eine heimtückische Bande hatte es fertig gebracht, rund 2000 Lämmlein zu rasieren und zu toupieren und als Königspudel im Internet anzubieten.

Jetzt ist die Idee so schräg, dass man förmlich die Handschellen klicken hört, weil ja niemand so blöd sein kann, ein Lamm nicht von einem Pudel zu unterscheiden, aber in Japan hat man eben nicht so viel Erfahrung mit Schafen, wohl aber ein großes Verlangen nach Königspudeln.

Was soll ich sagen: Die Bande hat tatsächlich alle 2000 Lämmlein vertickt. An ebenso viele Japaner. Und es wäre wohl nicht einmal herausgekommen, wenn sich eine japanische Schauspielerin nicht beschwert hätte, dass ihr Pudel so komische Geräusche von sich geben würde und das Fresschen verweigert.

Jetzt kann man ja mal reingelegt werden, und die Lämmchen sahen wirklich scharf aus als Pudel, und dass sie kein Hundefutter mochten, hätte man ja noch als vegetarische Veranlangung durchgehen lassen können und ein Bääähbäähh vielleicht noch als Fremdsprache, aber hat denn niemand drüber nachgedacht, dass Hunde keine Hufe haben?

Es sei denn, der Pudel wurde in ganz bestimmten Kreisen angeboten und verkauft. Dann allerdings gäb’s keinen Grund zur Beschwerde, denn rasierte und toupierte Lämmer wurden schon im Mittelalter als satanische Pudel verfolgt, auf den Scheiterhaufen gebracht und anschließend gegessen.

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©Kölnisch-preußische Lektoratsanstalt

Samstag, 5. Mai 2007

Weg, in Sizilien


Wir waren Weihnachten wieder in Sant’Ambrogio auf Sizilien. Es war ein schöner Urlaub. Nein, Fotos habe ich keine. Ich hatte den Apparat vergessen. Den neuen. Der alte ist ja kaputt. Wir sind zusammen gefahren, mit Manni und Ute. Ute hat zwei Kinder. Auf die Große können sie stolz sein, Ute und ihr Mann. Die jüngere wollte Ute gar nicht bekommen, aber dann …
Manni ist Frauenarzt. Ute lebt mit ihm und ihren beiden Töchtern in einem großen Haus gemeinsam mit seinen (also Mannis) Eltern unter einem Dach. Wir fahren alle zusammen, natürlich jeder in seinem Auto. Im Urlaub, meine ich. Und immer nach Sant’Ambrogio, das ist ganz abgelegen und es gibt dort keine Touristen. Wir gehören schon fast zu den Einheimischen.

Doch einen Tag nach ihrem 16. Geburtstag war Renate plötzlich verschwunden. Renate ist die jüngere Tochter, hatte ich das erwähnt?
Es war ein furchtbarer Tag. Es stürmte und regnete junge Hunde.
An diesem Tag ist schon eine Frau aus dem Dorf verunglückt, sie ist hingefallen. Durch den Regen war die Straße aber auch so glatt wie eine Schlittschuhbahn.
Die Straßen in Sant’Ambrogio sind fast alle gepflastert, das macht die Sache noch schlimmer – oder schöner, bei Sonne zum Beispiel.

Als Ute vom Strand kam – Ute geht im Urlaub jeden Tag an den Strand, warum auch immer, aber das tut hier nichts zur Sache –, als sie also zurück in das Ferienhaus kam, da dachte sie, Renate wäre oben in dem kleinen Dachzimmer. Die Mädchen hatten ein Dachzimmer, bei Sonnenschein viel zu warm. Nicht an diesem Tag, denn es regnete ja. Ute dachte also, Renate ware oben und würde zum Beispiel lesen. Oder Musik hören. Oder irgendwas anderes machen.

Genaugenommen weiß ich nicht, was Ute dachte. Sie hat nur erzählt, sie hätte gedacht, Renate wäre oben in dem besagten Zimmer.
Doch dem war nicht so.

Manfred, den alle immer Manni nennen (natürlich nicht seine Patientinnen, und von den Sprechstundenhilfen nur Frau Hafermann, aber die ist ja schon über 40), wollte Renates große Schwester Heike an diesem Nachmittag ja abholen. Zu Fuß. Sie war in der Eisdiele. Aber bei dem Wetter … also ging Ute selber los.
Doch sie traf Heike nicht an der Eisdiele. Sie sei angeblich schon nach Hause gegangen. Aber das stimmte auch nicht. Nur wusste das keiner.
Mehr als seine Stunde suchten sie nach ihr. Ohne Erfolg.

Es wurden verschiedene Vermutungen aufgestellt. Erst dachte man, Heike sei nach Hamburg gefahren oder nach England. Weil ihr geliebtes Pferd Fury abgeholt wurde. Aus Hamburg, nach England.

Warum das geschehen sollte, weiß ich auch nicht. Vielleicht sollte ich Ute mal fragen. Ist ja komisch, ein Pferd abholen zu lassen, wenn man gar nicht da ist. Aber vielleicht habe ich da auch was falsch verstanden.

Dann vermutete man eine Entführung durch die verrückte Anita. Anita ist eine ganz harmlose Person, sie ist nie aus Sant’Ambrogio herausgekommen. Fast jedenfalls. Na gut, sie hat ihren Mann und seine Mutter umgebracht. Aber wenn man die beiden kannte, dann zeugt diese Tat eher von Scharfsinn, Weitsicht und einem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl. Sie hat ja auch zwei Jahre dafür gesessen, in Palermo, glaube ich. Das haben mir die Einheimischen erzählt.

Die Familie wurde sogar noch mit verrückten Anrufen verwirrt. Mindestens mit einem.
„Verwählt“ soll der Mann in das Telefon gekeucht haben, mit verstellter Stimme, oder er hatte ein Taschentuch über die Sprechmuschel gelegt. Obwohl das gar nichts nützt, glaube ich. Als ich Frau Schonfleger angerufen habe wegen des Drecks vor der Garage, da hat sie mich sofort erkannt. Trotz Taschentuchs. Na ja, Ute kann kein Italienisch. Sie meint, es habe sich so angehört, als hätte der Anrufer etwas gesagt, das wie „verwählt“ auf Italienisch klang.

Ute war mit den Nerven total fertig. Die italienische Polizei stellt meist nur alte Vermutungen neu zusammen und unterstellt Touristen auch noch, dass sie ihre Kinder nicht gut erziehen. Ich kann nicht viel Italienisch; ich habe einen Kurs in der Volkshochschule gemacht, und manchmal verstehe ich auch nicht jedes Wort.
Wir haben die Polizei ja auch komplett rausgehalten. Aber wir hätten sie sicher noch angerufen, am Abend zum Beispiel.

Ute nahm dann ihre Füße in die Hand, und das Herz und die ganze Sache und fand sie dann oben in dem Dachzimmer. Die Mädchen hatten sich ja das Zimmer geteilt im Urlaub. Für eine Woche, da geht das ja mal. Man konnte ja nicht damit rechnen, dass es die ganze Zeit regnet. Heike war die ganze Zeit oben gewesen. Renate nicht, aber wo die an dem Nachmittag steckte, das habe ich bis heute nicht rausbekommen. Ich muss sie mal fragen bei Gelegenheit. Abends kam dann die Sonne wieder raus; es ist einfach herrlich, dort in Sant’Ambrogio.

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©2007 Harnfried Schoßmüller-Knappentropf

Mittwoch, 2. Mai 2007

Uunartoq Qeqertoq


Was es doch für schöne Inseln gibt: Fidschi, Tahiti, Tonga, Vanuatu, all die Atolle, Pulau Pulau Bompa nicht zu vergessen und Mururoa – nun gut, vielleicht doch nicht Mururoa, denn dort strahlt nicht nur die Sonne. Aber die anderen: blaues Meer, weiße Sandstrände, weiße Haie, Meeresschildkröten, Korallenriffe. Allerdings liegen diese Paradiese nicht besonders hoch über dem Meeresspiegel. Und damit lässt jeder im hohen Norden geschmolzene Eisberg das Wasser eine Handbreit weiter auf den Strand schwappen. Ein paar Jährchen noch, und die Paradieshäfen lassen sich nur noch mit U-Booten anlaufen. Kein Wunder, dass die Verantwortlichen, den König von Tonga eingeschlossen, bei jeder Meldung über die globale Erwärmung vor Besorgnis bibbern.
Weiter nördlich hat man andere Sorgen, die mit Bibbern wenig zu tun haben. Da gibt es nämlich gar kein Land, auf das Wasser schwappen könnte. Der einzige feste Grund unter den Füßen besteht aus Eis, und die meisten dieser Füße sind sechzig Zentimeter lang und gehören Eisbären, diesen Tieren, die aussehen wie Knut, aber viel größer und gefährlicher sind.
Nun heißt es ja, dass die zügige Schmelze des Bärengeläufs die Ursache dafür sei, dass die Großknuts in Kürze den Weg des Dodos gehen werden. Andererseits laufen die Eisbären ja nur deshalb übers Eis, weil sie auf der Suche nach leckerem Robbenfleisch sind. Und da liegt der Seehund begraben: Robben werden langsam, aber sicher, auch immer weniger, weil irgendwelche Menschen jährlich Zigtausende von ihnen abknallen. Da brauchen die Eisbären kein Eis mehr, über das sie laufen müssten, um Robben zu finden.
Stellen wir uns doch mal einen Strand vor, wo eine Robbe an der anderen liegt. Hundert Meter weiter treibt im Wasser eine Eisscholle. Glaubt jemand, dass ein zufällig vorbeikommender Eisbär die Robben links und rechts liegen ließe, zur Eisscholle schwömme und dort ein Loch grübe, um Robben zu finden?
Nun, wir alle kennen die Antwort. Natürlich bliebe der Bär an Land und am Strand und würde sich auch schnell daran gewöhnen aufzupassen, dass er beim Fressen nicht zu viel Sand zwischen die Zähne kriegt. Das kennt er vom Eisessen ja so nicht. Zur Eisscholle würde er nur noch schwimmen, um das überanstrengte Magengewebe ein wenig zu kühlen.
Wir sehen also, dass die Erderwärmung nicht zwangsläufig Katastrophen hervorruft. Nein, zudem sind die Folgen mitunter sogar recht verblüffend. Bei Grönland tauchte kürzlich unter einem schmelzenden Eisberg eine kleine Insel auf, die bislang noch niemand kannte. Versteckt unter einem Eispanzer hat sie geduldig darauf gewartet, bis genügend Menschen SUVs fahren, deren Abgase gerade ausreichen, um die Temperatur auf einen Wert zu heben, der das kalte Gefängnis schmelzen lässt. Nun steht sie da, mit steilen Felsen, denen auch ein höherer Wasserspiegel nichts anhaben wird. Sie wird dort auch noch stehen, wenn Tonga und die anderen längst versunken sind.
Das Land, das aus der Wärme kam. Oder wie die Inuit es nennen: Uunartoq Qeqertoq.
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©2007 Julius Moll
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