Samstag, 5. Mai 2007

Weg, in Sizilien


Wir waren Weihnachten wieder in Sant’Ambrogio auf Sizilien. Es war ein schöner Urlaub. Nein, Fotos habe ich keine. Ich hatte den Apparat vergessen. Den neuen. Der alte ist ja kaputt. Wir sind zusammen gefahren, mit Manni und Ute. Ute hat zwei Kinder. Auf die Große können sie stolz sein, Ute und ihr Mann. Die jüngere wollte Ute gar nicht bekommen, aber dann …
Manni ist Frauenarzt. Ute lebt mit ihm und ihren beiden Töchtern in einem großen Haus gemeinsam mit seinen (also Mannis) Eltern unter einem Dach. Wir fahren alle zusammen, natürlich jeder in seinem Auto. Im Urlaub, meine ich. Und immer nach Sant’Ambrogio, das ist ganz abgelegen und es gibt dort keine Touristen. Wir gehören schon fast zu den Einheimischen.

Doch einen Tag nach ihrem 16. Geburtstag war Renate plötzlich verschwunden. Renate ist die jüngere Tochter, hatte ich das erwähnt?
Es war ein furchtbarer Tag. Es stürmte und regnete junge Hunde.
An diesem Tag ist schon eine Frau aus dem Dorf verunglückt, sie ist hingefallen. Durch den Regen war die Straße aber auch so glatt wie eine Schlittschuhbahn.
Die Straßen in Sant’Ambrogio sind fast alle gepflastert, das macht die Sache noch schlimmer – oder schöner, bei Sonne zum Beispiel.

Als Ute vom Strand kam – Ute geht im Urlaub jeden Tag an den Strand, warum auch immer, aber das tut hier nichts zur Sache –, als sie also zurück in das Ferienhaus kam, da dachte sie, Renate wäre oben in dem kleinen Dachzimmer. Die Mädchen hatten ein Dachzimmer, bei Sonnenschein viel zu warm. Nicht an diesem Tag, denn es regnete ja. Ute dachte also, Renate ware oben und würde zum Beispiel lesen. Oder Musik hören. Oder irgendwas anderes machen.

Genaugenommen weiß ich nicht, was Ute dachte. Sie hat nur erzählt, sie hätte gedacht, Renate wäre oben in dem besagten Zimmer.
Doch dem war nicht so.

Manfred, den alle immer Manni nennen (natürlich nicht seine Patientinnen, und von den Sprechstundenhilfen nur Frau Hafermann, aber die ist ja schon über 40), wollte Renates große Schwester Heike an diesem Nachmittag ja abholen. Zu Fuß. Sie war in der Eisdiele. Aber bei dem Wetter … also ging Ute selber los.
Doch sie traf Heike nicht an der Eisdiele. Sie sei angeblich schon nach Hause gegangen. Aber das stimmte auch nicht. Nur wusste das keiner.
Mehr als seine Stunde suchten sie nach ihr. Ohne Erfolg.

Es wurden verschiedene Vermutungen aufgestellt. Erst dachte man, Heike sei nach Hamburg gefahren oder nach England. Weil ihr geliebtes Pferd Fury abgeholt wurde. Aus Hamburg, nach England.

Warum das geschehen sollte, weiß ich auch nicht. Vielleicht sollte ich Ute mal fragen. Ist ja komisch, ein Pferd abholen zu lassen, wenn man gar nicht da ist. Aber vielleicht habe ich da auch was falsch verstanden.

Dann vermutete man eine Entführung durch die verrückte Anita. Anita ist eine ganz harmlose Person, sie ist nie aus Sant’Ambrogio herausgekommen. Fast jedenfalls. Na gut, sie hat ihren Mann und seine Mutter umgebracht. Aber wenn man die beiden kannte, dann zeugt diese Tat eher von Scharfsinn, Weitsicht und einem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl. Sie hat ja auch zwei Jahre dafür gesessen, in Palermo, glaube ich. Das haben mir die Einheimischen erzählt.

Die Familie wurde sogar noch mit verrückten Anrufen verwirrt. Mindestens mit einem.
„Verwählt“ soll der Mann in das Telefon gekeucht haben, mit verstellter Stimme, oder er hatte ein Taschentuch über die Sprechmuschel gelegt. Obwohl das gar nichts nützt, glaube ich. Als ich Frau Schonfleger angerufen habe wegen des Drecks vor der Garage, da hat sie mich sofort erkannt. Trotz Taschentuchs. Na ja, Ute kann kein Italienisch. Sie meint, es habe sich so angehört, als hätte der Anrufer etwas gesagt, das wie „verwählt“ auf Italienisch klang.

Ute war mit den Nerven total fertig. Die italienische Polizei stellt meist nur alte Vermutungen neu zusammen und unterstellt Touristen auch noch, dass sie ihre Kinder nicht gut erziehen. Ich kann nicht viel Italienisch; ich habe einen Kurs in der Volkshochschule gemacht, und manchmal verstehe ich auch nicht jedes Wort.
Wir haben die Polizei ja auch komplett rausgehalten. Aber wir hätten sie sicher noch angerufen, am Abend zum Beispiel.

Ute nahm dann ihre Füße in die Hand, und das Herz und die ganze Sache und fand sie dann oben in dem Dachzimmer. Die Mädchen hatten sich ja das Zimmer geteilt im Urlaub. Für eine Woche, da geht das ja mal. Man konnte ja nicht damit rechnen, dass es die ganze Zeit regnet. Heike war die ganze Zeit oben gewesen. Renate nicht, aber wo die an dem Nachmittag steckte, das habe ich bis heute nicht rausbekommen. Ich muss sie mal fragen bei Gelegenheit. Abends kam dann die Sonne wieder raus; es ist einfach herrlich, dort in Sant’Ambrogio.

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©2007 Harnfried Schoßmüller-Knappentropf

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