Dienstag, 14. August 2007

Transmongolische Chirurgie


Erik ist ein furchtbar netter Mensch und klug dazu. Das sieht man ihm übrigens schon an. Er erinnert an Dr. Bunsen Honeydew aus der Sesamstraße: leicht schütteres blondes Haar auf einem etwas zu groß geratenen Schädel, der großflächig von einer Hornbrille umgeben wird. Als wir uns kennen lernten, studierte Erik an der Yale-Universität in New Haven, Connecticut, und zwar Medizintechnik. Wir wohnten zusammen in einer Bude.
Irgendwann, ein, zwei Jahre später, rief Erik aus Schweden an. Er hatte gerade sein Studium beendet, all sein Hab und Gut in New Haven gelassen und verkauft, und plante nun als Abschluss der großartigen Ausbildungszeit eine außergewöhnliche Reise, zusammen mit ein paar Freunden. Einer war aber leider erkrankt. Da sei ich ihm eingefallen, immer spontan und zu allem bereit. Ob ich nicht einspringen wolle?
„Wohin soll’s denn gehen?“
„Von Moskau nach Peking und dann über Hawaii zurück, Kalifornien, Ostküste, Europa, der normale Weg eben.“
„Klingt interessant. Aber warum sollte ich mich 473 Tage lang ins Flugzeug setzen? So viele Beine hab ich gar nicht für all die Thrombosen.“
„Wir fliegen ja nicht die gesamte Strecke.“
„Ach nein? Sondern? Fahren wir 10.000 der 40.000 Kilometer mit dem Rad?“
„Nein, mit der Eisenbahn.“
Das sollte vermutlich beruhigend klingen, verfehlte aber die Wirkung komplett.
„Mit der Eisenbahn? Von Hawaii nach San Francisco?“
„Quatsch! Von Moskau nach Peking.“

Das werden Sie nicht gleich verstehen, aber irgendwie beruhigte mich diese Auskunft. Zum einen wusste ich, dass Erik während seiner Militärdienstzeit in einer Abhörstation im hohen Norden gearbeitet hatte und mehrere russische Dialekte fließend sprach, und zweitens habe ich eine bestimmte Vorstellung davon, mit welchen Kisten die russischen und chinesischen Fluglinien inländische Flüge absolvieren. Mit irgendeinem Doppeldecker der Air Sezuan über die Wüste Gobi – nicht mit mir! Wie auch immer, nach einer knappen Viertelstunde hatte Erik mich weichgeklopft und war froh, dass jemand die anteiligen Kosten der Reise übernahm.

Ein paar Wochen später standen wir also zu fünft auf dem Bahnhof in Moskau und warteten auf die Abfahrt des Zuges Nr. 2, "Rossija", nach Wladiwostok. Das ist immerhin knapp 9300 Kilometer entfernt, und die Bahn braucht dafür gut sechs Tage (also etwa genau so lange wie die Deutsche Bundesbahn von Essen nach Köln).

Erik hatte für uns ein Vierer- und ein Zweierabteil gebucht. Hinreichend also, und wir hatten bei sechs Plätzen immer einen frei für einen einheimischen Gast. Der erste war ein nervöser Geist vom Typ ständiger Jungunternehmer, immer auf der Suche nach Geschäftsideen, mit denen er dann scheitern konnte. Soeben hatte er eine Internet-Unterhosenwäscherei in den Sand gesetzt. Logo, Visitenkarten, Homepage, Onlineshop – alles wunderbar, aber die Hol- und Bring-Kosten hatten die aufstrebende Firma ins unwiederbringliche Soll getrieben. Victor bediente seine deprimierte russische Seele mit Wodka, ein Wasserglas nach dem nächsten, und außerdem bediente er uns. Nach rund 3000 Kilometern, also ungefähr in der Mitte zwischen Omsk und Nowosibirsk, hatte ich mehrmals und durchaus unfreiwillig zahlreiche in Wodka eingelegte Portionen kommunistischer Fischeier und Blinis vorverdaut neben der Bahntrasse deponiert – aus dem Abteilfenster und unter Hervorbringung ästhetisch zweifelhafter Würgegeräusche.

Kurz hinter Blagojarsk stapfte Pjotr durch den Waggon. Pjotr war mit Mann und Maus unterwegs zu seinen Schwiegereltern in der Nähe von Jekaterinburg, d. h. mit Frau, zwei Kindern, einer Ziege und zwei Drahtkäfigen mit Hühnern. Beim Halt in Blagojarsk hatte er die Bahnhofstoilette aufgesucht; ein guter Plan, denn die Klos im Zug waren in einem bemitleidenswerten Zustand. Ich kann zwar kein Russisch, aber auf einem der Schilder in den Toiletten stand ganz sicher: „Bitte achten Sie darauf, neben die Schüssel zu urinieren!“ Leider war Pjotr kurz eingenickt auf dem Bahnhofsklo, vermutlich hervorgerufen durch den seelischen Frieden aufgrund der plötzlichen Sauberkeit. Als er wieder erwachte, war sein Zug abgefahren, aber zufällig stand gerade der Gegenzug am Bahnsteig und sah genauso aus wie seiner. Bis ihm auffiel, dass seine Familie nicht mehr vorhanden war, lagen bereits fast 100 Kilometer zwischen den Getrennten. Und dass ein Zug der transsibirischen Eisenbahn umkehrt, um nach einem verlorenen Fahrgast zu suchen, gehört zu den Vorgängen im Universum, deren Wahrscheinlichkeit gegen Null tendiert.

Für uns wurde es erst in Irkutsk, nach fast 5200 Kilometern, wieder spannend. Wir stiegen um in einen anderen Zug, der bei Kilometer 5655 abzweigt und den Weg nach Süden einschlägt: die transmongolische Eisenbahn. Der Zug wurde nun gezogen von zwei Doppelloks vom Typ 2M62, die von allen, die sie mal gehört haben, wahlweise „Taigatrommel“ oder „Stalins letzte Rache“ genannt werden. Glücklicherweise lagen unsere Abteile recht weit hinten.

In Ulaanbaatar, der Hauptstadt, kriegten wir einen neuen Gast, einen schmalen blonden Jüngling, der Oxford-Englisch sprach und als Hilfssheriff in der britischen Botschaft arbeitete. Auf die Frage, wo seiner Meinung nach der langweiligste Ort der Welt sei, deutete er wortlos hinter sich. „Hunderttausend Einwohner, ein Kino.“ Das klang wirklich deprimierend, verblasste aber gegen den Umstand, dass seit der Grenze kein Speisewagen mehr am Zug hing. Vielleicht gab es für diese Zwecke nicht genug Hunde oder Erdhörnchen in der Mongolei.

Wenn man mit dem Auto irgendwo hinfährt, gibt es ja eigentlich nichts Schlimmeres, als wenn das Benzin ausgeht. Bei einer Eisenbahn halte ich es für den größten anzunehmenden Zwischenfall, wenn die Schienen nicht mehr weitergehen. Warum ich darauf komme? Nun ja, mitten in der Nacht näherten wir uns der chinesischen Grenze. Trotz des Lärms der Taigatrommel konnten wir bereits einige Kilometer vorher die Klänge chinesischer Revolutionslieder hören, die aus mächtigen Verstärkern übers Land dröhnten, um die Reisenden musikalisch einzustimmen. An der Grenzstation war es heller als in St. Tropez am Mittag; gigantische Scheinwerfer leuchteten die Demarkationslinie penibel aus. Und siehe da: Das Gleis war zu Ende!

Bislang waren wir nämlich auf der russischen Breitspur unterwegs, 1524 Millimeter breit. In China liegen die Schienen aber nur 1435 Millimeter auseinander, damit die Russen mit ihren Militärtransportern nicht aus Versehen bis Peking fahren können. Da sind die Chinesen dann konsequent: Die Waggons wurden auf schmalere Fahrgestelle umgesetzt. Das Ganze dauerte mehr als eine Stunde, hatte aber eine sehr angenehme Konsequenz: Es gab wieder einen Speisewagen, zudem mit wunderbarer chinesischer Küche. Leider waren nach knapp zehn Minuten alle Fahrgäste dort versammelt, fünfzig Kilometer später war alles ratzekahl leergefressen und es herrschten wieder mongolische Verhältnisse.

Irgendwann erreichten wir Peking. Endlich ein Hotel, ein bisschen Verbotene Stadt, ein bisschen Sightseeing, und dann ab nach Hawaii. So hatte ich mir das vorgestellt, aber ach, wie hatte ich mich geirrt! Erik war nämlich der grauenhafte Fehler unterlaufen, sich von Schweden aus für eine Dreitagesführung durch chinesische Offizielle zu bewerben. Leider hatte er damit Erfolg gehabt. Und erschwerend kam hinzu, dass die chinesische Seite aus Eriks Berufsangabe „Medizintechniker“ geschlossen hatte, er wäre Chirurg. Akribisch hatten sie daher für uns eine Führung durch alle möglichen Pekinger Kliniken organisiert, um uns die neuesten Operationstechniken mit Hilfe von Akupunktur, Yin und Yang, Ayurveda, und weiß der Kuckuck was noch alles zu demonstrieren. Als Gast sagt man ja auch so ungern nein. Und wenn man dann am Operationstisch steht und die Dolmetscherin sagt: „Herr Professor Cheng öffnet jetzt, wie Sie sehen, ohne weitere Betäubung den Brustkorb von Herrn Li und entnimmt zu Demonstrationszwecken für die ehrenwerten Herren Doktoren aus Schweden das Herz“, dann wagt ja auch keiner mehr zu antworten: „Tut mir Leid, aber hier muss ein Irrtum vorliegen.“

Ich bin übrigens von Peking aus direkt nach Frankfurt zurückgeflogen. Irgendwie hatte ich Bedenken, dass uns Erik auf Hawaii als Vulkanologen angekündigt haben könnte.
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© 2007 Julius Moll

Freitag, 3. August 2007

Jetstream


Letztens hatte ich Geburtstag. Jetzt bin ich nicht so ein Typ, der gerne Geburtstag feiert, weil ich die vielen Überraschungen fürchte, die sich die lieben Freunde für einen ausgedacht haben. Doch diesmal hatte ich Glück. Statt Freude über Geschenke zu heucheln, die in diametraler Verkennung meines Charakters erworben wurden, bekam ich eine Ballonfahrt.

Gut, ich habe Höhenangst und neige zur Klaustrophobie, aber solche Ballonfahrten sollen ja sehr sicher sein. So sicher nun auch wieder nicht, sagt mein Freund Willi. Aber runter kommt man immer. Manchmal verteilt auf einer Fläche von mehreren Quadratkilometern. Wili sagt, wenn das passiert, solle man versuchen, im Sturzflug einen Baum anzusteuern. Da hätte man die besten Chancen. Ich frage mich nur: die besten Chancen auf was? Einen Baum von der Krone bis zur Wurzel zu spalten? Eine neue Körpergröße von 1,30 Meter? Windeln auf der Komastation? Ich gebe zu, ich bin zuweilen pessimistisch. Und wir sind auch nicht abgestürzt. Es war alles noch viel schlimmer. Aber ich will nicht vorgreifen.

Wir bestiegen den Ballon an einem herrlichen Sommertag, mit majestätisch blauem Himmel und einem prächtig gewölbten, riesigen Ballon, der prall gefüllt nur noch von einem Anker am Flug gehindert wurde. Meine Frau begleitete mich und redete mir gut zu, als wir mit dreizehn Leuten in den Korb stiegen. Elf Passagiere, ein Kapitän und ein renitenter Rentner, der von seiner Familie in den Ballon bugsiert wurde. Auch ein Geburtstagsgeschenk.

Schon fauchte der Gashahn, der Ballon stieg auf. Wir schwebten davon, kletterten höher und höher und erreichten bald Reiseflughöhe. Es war ein herrlicher Anblick. Es war mild, ruhig, friedlich. Die wunderbare Landschaft unter uns, der Himmel über uns. Alles hätte so schön können ... bis Opa sich meldete. Er sagte nur einen Satz. Und der schlug ein wie eine Kartjusha-Rakete in einen gigantischen Pudding. Er sagte: „Verdammt noch mal, wo ist eigentlich mein Imodium akut?“

Sonst nichts. Und es war, als hätte jemand gegen einen Plattenspieler getreten, der bis dahin nichts als zärtlichen Mozart gespielt hatte. Ich blickte nach unten: 500 Meter. Mindestens. Genau über einer Ortschaft. Und wie der Teufel es wollte, rührte sich kein Lüftchen mehr.

Dann – in die Stille – ein lautes, feuchtwarmes Sprotzen, so laut, als hätte der Ballonfahrer den Brenner betätigt. Hatte er aber nicht. Um Opa bildete sich eine Wolke des Todes und sie griff rasch um sich. Wollen Sie wissen, wie viele Personen auf etwa einem halben Quadratmeter stehen können? Ich sag’s ihnen: es sind genau zwölf. Rasch geriet der ganze Ballon in gefährliche Schieflage. Der Kapitän befahl, sich wieder im Geviert zu verteilen – seinen Platz in der Mitte hatte er allerdings als erstes aufgegeben.

„Runter!“ schrie ich. „Sofort landen!“ Das jedoch ging nicht. Wir schwebten über bebautem Gebiet.
„Dann steigen! Los! Da oben muss es irgendwo Jetstreams geben. Die sind 500 Kilometer schnell!“
„Bis wir die erreicht haben, sind wir alle tot“, sagte der Kapitän.
„Gut, dann schmeiß ich Opa über Bord.“

Sehen Sie, ich hatte nicht vor, Opa über Bord zu werfen, aber der Alte reagierte sofort: Ein explosionsartiges Donnern in seiner Hose ließ uns wissen, dass er Angriffen gegenüber sehr wohl gewappnet war. Seine Augen funkelten mich böse an, so als ob er sagen würde: Versuch’s nur, Freundchen. Da wo das herkommt, gibt’s noch viel mehr.

Da standen wir nun still in der Luft, dieser prächtige Ballon in einsamer Stille eines ihn umgebenden Blaus, und rührten uns keinen Millimeter. Zwölf Mann auf der einen Seite – einer auf der anderen. Der pestilenzartige Gestank hatte den Korb nun vollständig eingekapselt und die Passagiere wie Kätzchen, die man am Genick hochhob, paralysiert. Nur einer hatte seine sichtliche Freude an dem Drama: Opa. Ein diabolisches Lächeln umspielte seinen Mund, und er pfiff fröhlich einen Marsch, weil er wusste, dass er für gewalttätige Übergriffe unerreichbar war. Dann und wann – aus purer Bosheit – ging er in Stellung, nur um sich gleich darauf wieder zu entspannen.

„Gott“, wisperte meine Frau, „Was hat der nur gegessen?“
„Keine Ahnung, aber eins ist sicher: Es war schon sehr, sehr lange tot, bevor er es sich reingeschoben hat.“
„Jetzt tu doch was!“
Ich blickte über den Korb. „Da unten steht ne Tanne. Willi hat gesagt, da hätte man gute Chancen.“
„Willi hat auch gesagt, die Rolling Stones wären die amerikanische Antwort auf die Beatles.“
„Dann bleiben wir eben hier und sterben in Würde.“

Wie lange wir vegetierten weiß ich nicht mehr – ich glaube, ich habe zwischendurch mal das Bewusstsein verloren. Aber irgendwann landeten wir dann doch. Zwölf stürzten förmlich aus dem Ballon heraus, während einer triumphierend aus dem Korb stolzierte. Wir hätten ihn gerne erschlagen, aber niemand wusste, ob er noch eine Ladung intus oder im Ballon nur damit geblufft hatte.

Sein Schwiegersohn und dessen Frau holten ihn ab. Ich hörte noch, wie sie sagte: „Hast du nicht gesagt, die Dinger stürzen ständig ab?“
Er flüsterte: „Als nächstes nehmen wir diese U-Boot-Reisen auf der Barentssee. Auf die Russen ist Verlass ...“ Dann breitete er die Arme aus: „Na, Opa? Wie war die Fahrt? Schön?“