Donnerstag, 8. November 2007

Letzte Ausfahrt: Tiefgarage


Letztens war ich mit meinem Freund Salvatore essen, und als es ans Zahlen ging, lud er mich mit lässiger Geste ein und beglich die Rechnung mit einem Hunderter. Den Rest überließ er der hübschen Bedienung als Trinkgeld: 37,30 Euro. Ich war ziemlich fassungslos, denn Salvatore ist zwar ein netter Kerl, aber er ist für gemeinhin derart sparsam, dass ihn ein Witzbold mal bei Wikipedia unter „berühmte Geizkragen” verewigte. Dabei ist der gar nicht berühmt.

Es ging munter weiter: Cocktail, Zigarre, Szenebar. Alles auf seine Kosten. Was er damit bezweckte, wusste ich nicht, aber dass er etwas damit bezweckte, schien mir mehr als offensichtlich. Was gab es zu feiern? Eine neue Liebe? Ein neues Leben? Schalalala? Ich schwieg, wenn ich auch vor Neugier platzte. Denn Salvatore war für gewöhnlich nicht nur ein Geizkragen, sondern auch ein Geheimniskrämer. In seinem Fall bedeutete dies, dass er mit Dingen selbst herausrückte oder gar nicht.

Also wartete ich.

Irgendwann sagte er: „Du fragst dich sicher, was mit mir los ist?“
Ich zuckte scheinheilig mit den Schultern: „Nein. Ist was los?“
„Ich habe einen neuen Job.“
„Was für einen Job?“
Er zögerte: „Das ist kompliziert ...“
„Aha.

Ehrlich gesagt war alles irgendwie kompliziert bei Salvatore. Als Verwaltungsbeamter im Bauamt hatte er eine Menge mächtig komplizierter Vorgänge zu bewältigen. Da war die komplizierte Kaffeemaschine, die komplizierten Ordner, der komplizierte Schreibtisch, und die komplizierte Beziehung zu Fräulein Schmidt, als Schreibtischunterlage, die immer nur Sex, Sex, Sex wollte. Komplizierten Sex natürlich.

„Du arbeitest nicht mehr auf dem Amt?“ fragte ich erstaunt.
Er antwortete: „Doch.“
„Hast du nicht gerade gesagt, du hättest einen neuen Job?“
„Ja.“
„Und noch einen anderen dazu?“
„Wenn man so will: ja.“
„Wenn man so will?“
„Es ist kompliziert.“

Dann zahlte er und schob mich nach draußen. Was er mir zu erklären hatte, konnte er nur im Auto tun.
„Du hast ein Auto?“, fragte ich verwundert. Denn Autos waren für ihn der Inbegriff der Geldverschwendung. Bisher jedenfalls.
Er nickte: „Ja ... da vorne ...“
Ich sah herüber und entdeckte einen Ferrari.
„Du meinst den Roten da?“
„Ja.“

Wir starteten durch und fuhren scheinbar ohne Ziel durch die Stadt. Zögerlich begann er, mir von seiner Verwandtschaft zu erzählen, die da eigentlich eine gute Idee gehabt hätte, wenn moralisch auch etwas zweifelhaft, aber doch eine gute Idee. Wo doch Beerdigungen so verdammt teuer geworden wären. Mittlerweile musste man schon sein ganzes Leben sparen, nur um einmal ordentlich unter die Erde gebracht zu werden. Das war doch nun wirklich ein Skandal. Ich verstand kein Wort. Wir hielten an einem Hochhaus in einem Neubaugebiet.

„Opa Federico!“ sagte Salvatore, als ob das alles erklären würde. „Du weißt doch: mein Lieblingsopa.“
„Der ist doch seit ein paar Jahren tot.“
„Davon red ich doch.“
„Wovon?“
„Vom Sterben. Und den hohen Kosten. Hörst du mir denn nicht zu?“
„Doch ... es ist nur ... kompliziert.“
Er schüttelte den Kopf: „So kompliziert nun auch wieder nicht ... guck mal da!“

Ich sah aus dem Seitenfenster auf die Ausfahrt zur Tiefgarage. Es war eine sehr schöne Ausfahrt zu einer Tiefgarage. Jedenfalls sagte ich das Salvatore.
„Quatsch!“ zischte Salvatore. „Jetzt! Guck mal!“
Jemand verließ gerade die Tiefgarage und hinter ihm ratterte das Tor wieder herunter. Jetzt konnte ich es lesen: Arrivederci Federico. Als Graffiti.
„Sehr hübsch“, nickte ich, „nur ...“
„Opa liegt da.“
Für einen Moment glaubte ich, nicht richtig gehört zu haben. „Wie: da?“
„Im Fundament.“
„Wie bitte?“
Salvatore zuckte mit den Schultern: „Weißt du, was eine deutsche Beerdigung kostet? Wir wären alle Pleite gegangen. Und jetzt sieh dir das an: Ist es nicht schön? Wir haben den besten Graffitikünstler engagiert. Und jetzt grüßt uns Opa jedes Mal, wenn einer zur Arbeit fährt. Jetzt gib zu: das hat doch was?!“

Wir fuhren weiter, während ich fieberhaft überlegte, ob Salvatore mich gerade auf den Arm nahm oder nicht. Er arbeitete auf dem Bauamt, wusste also von allen Baustellen, die es im Stadtgebiet gab. Und er war geizig bis zum geht nicht mehr. Hatte er das wirklich gemacht?
„Die meisten sind von der Sache begeistert“, sagte er.
„Die meisten?“
„So was spricht sich schnell rum, weißt du?“
„Das heißt, du ... ihr habt noch mehr Leute vergraben?“
„Na ja, überall wo gebaut wird. Schau mal!“
Wir fuhren auf eine Brücke zu, an deren Pfeiler stand: Wilhelm Bungert ist der Größte. Eindeutig von gleichen Graffitisprayer.
„Du kannst dir deine Inschrift vorher aussuchen. Kannst alles haben. Vom einfachen Schriftzug bis zum Graffiti Deluxe. Wir bringen jeden für 299 Euro unter die Erde. Mit einem schicken Graffiti für 399 Euro. Da!“
Wir passierten ein Einkaufszentrum. Hier stand: Ich liebe Maria. Ulla und Deniz. Herbert war hier. Nobody is perfect, Ralfi. Es war unfassbar, wie viele Graffitis ich entdeckte. War mir vorher nie aufgefallen.

„Und wenn die einer wegmacht?“ fragte ich.
„Dann machen wir sie wieder dran. Gehört zum Service.“
„Und warum sagst du mir das alles?“
„Du bist doch gerade nach Berlin versetzt worden?“
„Ja, und?“
„In Berlin wird viel gebaut.“
„Ich bin Städteplaner, Salvatore. Nicht Beerdigungsunternehmer.“
Salvatore seufzte: „Überleg’s dir. Ich krieg da gerade eine Busladung Rentner aus dem Sauerland rein. Die waren noch nie in Berlin.“

Ich schwieg einen Moment. Ließ man den pietätlosen Teil des Unternehmens weg, war es eigentlich ziemlich wurscht, wo man lag. Und dass Kirche und Staat ein Monopol auf die letzte aller Reisen hatten, wäre grundsätzlich mal einen Antrag beim Kartellamt wert. Warum durften die Ferrari fahren und ich nicht? Im übertragenen Sinne, meine ich.

„Ich denk drüber nach, okay?“
Salvatore nickte.
Wir passierten das neue Finanzamt. Dort stand: Markus Großmann klaut bei Aldi.
„Und hast du keine Angst, dass dich einer anzeigt?“
Salvatore zuckte mit den Schultern: „Und was passiert dann? Sie reißen das Finanzamt ab, um im Fundament nach Markus Großmann zu suchen?“
„Hat der wirklich bei Aldi geklaut?“
„Keine Ahnung. Seine Alte hat nicht gezahlt.“

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