Erik, der Zeitreisende
Keine Ahnung, was mich hat aufmerksam werden lassen. Ich meine, sind wir doch mal ehrlich: Wer beachtet schon einen Penner? Auch wenn er immer am selben Platz sitzt. Und normalerweise rück ich auch keine Kohle raus, weil ich der Meinung bin, er könnte genauso gut was tun für seine Kohle, statt einfach die Hand aufzuhalten: schlecht singen, zum Beispiel. Oder schlecht Triangel spielen. Oder schlecht bauchrednern.
Was an jenem Morgen anders war ...? Vielleicht das Geklimper von sehr kleinem Kleingeld in meiner Hosentasche. Mich nervt das. Die Finger riechen nach dreckigem Metall, und kaufen kann man davon auch nichts. Ich hab mal drüber nachgedacht, damit die Enten zu füttern und es Kunst zu nennen, aber das Konzept kam in der Öffentlichkeit nicht gut an. Sonst finden die jeden Scheiß innovativ, aber versenk mal eine fette Ente ... da ist was los!
Jedenfalls hab ich ihm mein klitzekleines Kleingeld gegeben. Gegen meine Prinzipien. Einfach so. Und er sagt: „Danke, Andreas.“
Und ich sage: „Schon gut, Mann.“
Während ich weitergehe, arbeitet es in mir. Kennen Sie die Sekunde, kurz bevor man auf eine Sache kommt? So, als ob man seinem Marmeladenbrot hinterher schaut, das einem gerade aus der Hand gefallen ist. Dann macht es Flatsch und man weiß es: wieso kennt der meinen Namen? Also gehe ich wieder zurück und frage ihn.
Er antwortet: „Wir sind doch Freunde.“
„Wir sind Freunde? Seit wann das denn?“
„In ein paar Tagen werden wir Freunde sein.“
„Aha. Und wieso weißt du dann jetzt schon meinen Namen?“
„Weil du dich mir gleich vorstellen wirst.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Das fragst du mich?“
Es gibt Unterhaltungen, die führen ins Nichts. Und vor allem führen sie dazu, dass man seinen Bus verpasst. Und das wiederum führt dazu, dass man stinksauer zurücklatscht und sich bei dem beschwert, der einen den Bus hat verpassen lassen. Doch bevor ich ihn anpflaumen kann, sagt er: „Du hast den Bus verpasst, ich weiß.“
„Ja, aber das ist nicht der Punkt ...“
„Den 105er, richtig?“
„Ja, aber das ist auch nicht der Punkt ... woher weißt du das?“
Er steht auf und gibt mir die Hand: „Hallo, ich bin Erik, der Zeitreisende.“
„Andreas, hallo.“
Erik nickt grinsend und mir fällt auf, dass ich mich ihm soeben vorgestellt habe. Genau wie er es vorhergesagt hat.
Erik und ich wurden in den nächsten Wochen tatsächlich Freunde. Ich brachte Rotwein mit – und keinen billigen, da Erik schlechten von gutem Rotwein sehr gut unterscheiden konnte, schließlich hatte er viele Jahre die Rotweinherstellung im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert begleitet. Was ihn nicht davon abhielt, einen Grand Cru an den Hals zu setzen und ihn wie Sprudel runterzukippen. Er wusste Erstaunliches zu berichten, weniger über das, was jedermann im Geschichtsbuch nachschlagen konnte, sondern über das, was eben nicht im Geschichtsbuch stand und dort auch niemals stehen würde. Wussten Sie, zum Beispiel, dass Napoleon Frauenunterwäsche trug? Also, ich nicht.
„Und das ist wirklich wahr? Das mit Napoleon?“
„Natürlich ist das wahr.“
„Und was ist mit den anderen ... Stalin, zum Beispiel?“
„Der auch.“
„Was denn? Der auch?“
„Wenn ich’s dir sage.“
„Und ... Katharina die Große?“
„Die trug auch Frauenunterwäsche.“
„Nein, das meine ich nicht. Man sagt ihr Dinge nach. Mit Männern. Und einem Pferd ...“
„Nein, kein Pferd. Da war nur mal ein sibirischer Hauptmann dabei, den nannten alle Pferd, wenn du verstehst, was ich meine ...“
Ich verstand. Und war sicher, nie wieder ein Geschichtsbuch in die Hand nehmen zu können, ohne dass sich Bilder in meinem Kopf manifestierten, die jedes historische Ereignis zu einer Ansammlungen von Perverslingen und Travestiten machte. Trotzdem waren seine Geschichten amüsant, und wenn er sich an etwas nicht mehr erinnerte, schloss er kurz die Augen, sackte ein Stück in sich zusammen und tauchte ruckartig wieder auf.
„Also, ich war noch mal da“, sagte er dann, „und ich versichere dir: Michelangelo schielt.“
„Du hast ihn getroffen?“
„Was heißt hier getroffen? Ich hab ihm zwei Jahre lang assistiert.“
Ich rief: „Du warst gerade mal zehn Sekunden weg!“
Er antwortete ruhig: „Hätte ich dich hier jetzt zwei Jahre warten lassen sollen?“
So ging das die ganze Zeit zwischen uns. Ab und zu tauchte er ab, dann war er wieder da und wusste alles über Galeerensklaverei, römischen Handel, griechische Baukunst, mittelhochdeutschen Minnegesang oder neuzeitlichen Kolonialismus. Und weil ich ihm weiterhin feinen Rotwein servierte und ihn dazu überredete, Gläser zu benutzen, gaben wir beide ein seltsames Bild ab: ein Penner und ein Neunmalkluger, die Rotwein aus teuren Gläsern tranken und sich – an einer Häuserwand sitzend – unterhielten.
Das hätte ewig so weitergehen können, denn die Gespräche mit Erik, dem Zeitreisenden, gaben meinem Tag Struktur und ließen mich immer lächelnd nach Hause gehen. Dann, plötzlich, hatte ich eine tolle Idee, die im Nachhinein betrachtet, die dümmste war, auf die ich je gekommen bin.
„Sag mir die doch mal Lottozahlen von nächster Woche“, forderte ich ihn auf.
Er schüttelte den Kopf: „Ich kann nicht in die Zukunft reisen. Nur in die Vergangenheit.“
Ich kratzte mich am Kinn. „Wenn du in der Vergangenheit bist, musst du doch auch in die Zukunft, um zurückzukommen?“
Erik schüttelte den Kopf: „Nein, ich muss in die Gegenwart. Nicht in die Zukunft.“
„Moment!“ rief ich. „Als wir uns kennen lernten, hast du mir gesagt, wir wären schon Freunde ... also: Zukunft!“
Wieder schüttelte er den Kopf: „Nur, weil du das Hier und Jetzt für die Gegenwart hältst.“
„Sind wir nicht in der Gegenwart?“
„Nein. Aber wir sind auch nicht weit davon entfernt.“
Ich dachte nach: Wenn wir nicht in der Gegenwart waren, dann waren wir in der Vergangenheit. Die ich für die Gegenwart hielt. Und der Rest der Menschheit auch. Das war ja mal eine Neuigkeit! Und ein praktische noch dazu. Man könnte gleich einschätzen, ob ein Geschäftsessen zu einem Auftrag oder ein Date zu einer Liaison führte, oder ein Fußballspiel den Eintritt lohnte. Oder ob deine Zahlen auf dem Lottoschein die richtigen waren.
„Kannst du nicht eine Ausnahme machen? Mir zuliebe?“
Erik zögerte: „Weil du mein Freund bist?“
„Ja.“
„Dein Leben wird sich ziemlich verändern ...“
Ich zuckte mit den Schultern: „Darauf lass ich es ankommen.“
Er zögerte einen Moment, dann sagte er: „Ich kann dir die Zahlen von nächster Woche nicht sagen.
Was er damit meinte, ging mir erst eine Woche später auf, als ich die Schlagzeilen in der Zeitung las: keine Lottozahlen. Die Mischmaschine hatte versagt. Zum ersten Mal überhaupt. Ich lief zu seinem Platz, aber er war nicht mehr da. Und auch nicht am nächsten Tag. Oder am übernächsten. Ich fürchte, er wird nicht wieder zurückkommen. Ich vermisse unsere schrägen Gespräche und den Rotwein auf der Straße. Es hat mein Leben so schön bunt gemacht – jetzt ist es wieder grau. Alles hat sich verändert. Genau wie er es vorausgesagt hatte.
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