Greif, die Scharfmetze
Als Volkmar fragte: "Woll’n wir mal paddeln?", war mir absolut nicht klar, was da auf mich zukam. Paddeln klingt so harmlos.
"Paddeln? Wo denn?"
"Mosel."
Mosel klingt so schlimm auch nicht.
"Die Mosel ist lang."
"An der Mündung in den Rhein nicht mehr."
Das klang logisch. Aber wohin fuhr man dann überhaupt noch? War die Mosel an der Mündung in den Rhein nicht irgendwie zu Ende?
"Ein bisschen den Rhein runter. Mal sehen, wie weit wir kommen."
Prophet hätte er damit werden können, der gute Volkmar; ein Weissager, bewundert und geliebt. Aber nein, er musste Freizeitpaddler sein.
"Woher kriegen wir denn ein Boot?"
Sein Blick changierte zwischen mitleidig und stechend. Aber was weiß ein Laie schon? Ich finde, dass man sich nicht unbedingt in dünnwandige, spindelförmige Kunststoffgebilde zwängen muss, um sich zu ertränken. Zudem muss man sich dazu nicht an langen Stöcken mit abgeflachten Enden festhalten.
Volkmar war anderer Meinung. Und er kannte selbstverständlich den günstigsten Vermieter von Paddelbooten moselauf und rheinab.
Wie auch immer: Wenig später klemmten wir in einem zweisitzigen Kanu und ich versuchte, mir nicht die Finger zu brechen, während ich das Gummiding, das Volkmar als Spritzschutz bezeichnete, über die dafür vorgesehene Kante der Sitzluke zog. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich darauf verzichtet, aber Volkmar warnte vor Einschwappungen und nachfolgender Kenterung. Und angesichts der Farbe des Wassers beschloss ich, das Risiko nicht einzugehen. Bräunlichtrüb.
Der Seegang (oder heißt es bei Flüssen Flussgang?) war deutlicher, als ich befürchtet hatte. Alle Augenblicke tauchte der Bug in eine Welle, die Welle reagierte mit Gischt, und die Gischt sprühte mir ins Gesicht. Langsam breitete sich in mir der Verdacht aus, dass sich Volkmar nicht nur aus Gründen der Schlagzahlkontrolle auf den hinteren Sitz gesetzt hatte.
Dann erreichten wir den Rhein, und ich begann unvermittelt zu vermuten, dass dies keine positiven Auswirkungen auf den weiteren Tagesverlauf haben würde. In der hintersten, schummerig beleuchteten Abenteurerecke meiner Seele hatte ich das erste Zusammentreffen mit einem größeren Schiff erst weit im Norden erhofft, ein Wikingerschiff mit prächtigen Kriegern, weit hinter der Rheinmündung, nach langer Paddelei durch die Nordsee, vorbei an Brittanien und Hibernien, gestählt durch tägliche Scharmützel mit dreisten, wenn auch unvorsichtigen Piraten. Aber nein, die Begegnung fand viel früher statt, jetzt und hier, und das mit einem profanen Lastkahn. Hic Koblenz, hic salta – oder sagen wir lieber: hic salto!
Ich hatte soeben einen ehrfürchtigen Blick hinauf zur Feste Ehrenbreitstein geworfen. Trutzig und trocken lag sie da, unbeeindruckt von den Zeitläuften, Ehrfurcht gebietend, preußisch; hinter den Schießscharten bewehrt mit monumentalen Kanonen, die größte davon namens Greif. Ein Koloss von neun Tonnen und viereinhalb Meter Länge, mit der man theoretisch Kugeln von 80 kg Gewicht verschießen konnte. So etwas hier unten im Boot, und ich hätte mich vielleicht retten können durch eine Selbstverschießung ans rettende Ufer.
Der Lastkahn war einfach zu nah und zu schnell. Seine Bugwelle hatte Resonanzfrequenz mit der restlichen üblen Wasserbewegung, und keine zwei Sekunden später tat es einen Schlag, als ob man von der Feste droben Kartätschen auf uns feuern würde. Gleichzeitig hörte ich Volkmar durch die Gischt brüllen: "Wir kentern!"
Da sage bloß einer, Profis würden in kritischen Situationen den Überblick verlieren. Volkmars messerscharfer Schluss überzeugte selbst mich, der ich Sekundenbruchteile später kopfüber in der Brühe steckte und inständig hoffte, dass der gegenwärtige Zustand Teil einer Eskimorolle war. Wenigstens hatte Volkmar aufgehört zu rufen. Vermutlich war er damit beschäftigt, das Boot durchzukentern, um unsere Köpfe wieder an die Luft zu kriegen. Aus irgendeinem verrückten Grund fiel mir die Kanone Greif wieder ein. Ein Koloss, wie gesagt, eine so genannte Scharfmetze, die aber verglichen mit Volkmar und mir von sich behaupten konnte, weiter in der Welt herumgekommen zu sein. Immerhin wurde sie, ohne einen Schuss abgefeuert zu haben, 1799 in den Invalidendom nach Paris gebracht, 1940 wieder zurück, 1945 wieder nach Paris, und 1984 wieder zurück. Das nennt man wohl reisen, wenn auch eher aus Zufall.
Zufall war es wohl auch, der dafür sorgte, dass wir die Köpfe wieder aus dem Wasser kriegten. "Los, paddeln!" schrie Volkmar. "Wir müssen ans Ufer!" Da waren wir endlich einer Meinung. Wir hätten von vornherein am Ufer bleiben sollen. Allerdings hätte ich dann nicht über Greif, die Scharfmetze, nachgedacht, und das wär schade gewesen.
Nun quälte mich auf den letzten Metern Paddelei allein die Frage, warum es heute keine Scharfmetzen mehr gibt. Dinge, die 80 kg wiegen und die ich weit genug wegschießen möchte, gibt es genug. Meinen wöchentlichen Hausmüll beispielsweise, oder George Bush. Als wir endlich anlegten und mit schlotternden Knien ausgestiegen waren, kam mir noch in den Sinn, dass die kleinere Ausgabe einer Scharfmetze Kartaune hieß, bevor sie unter der Bezeichnung 40-Pfünder zu größerer Bekanntheit gelangte. Vierzig Pfund? Das heißt also: Zwei Kartaunen sind zusammen ein 80-Pfünder – so viel wiegt ungefähr ein bulimisches Model. Heißt das: Doppelkartaune = Mager-Model? Da klingt Doppelkartaune irgendwie handlicher, optimistischer. Nicht so krank. Aber wahrscheinlich ist wieder alles komplizierter, als ich mir das denke.
"Du kannst das Paddel jetzt loslassen," sagte Volkmar. "Du stehst an Land."
Genau wie Ehrenbreitstein. Danke, Volkmar.
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©2007 Julius Moll
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