Trendsportart Schlafsegeln
Es ist ja so: Wenn man gerne zur See fährt, dann fängt das Vergnügen erst richtig an, wenn man das Schiff selbst steuert. Um das zu tun, braucht man zweierlei, nämlich erstens ein Schiff und zweitens einen Bootsführerschein. So ein Bootsführerschein ist häufig das Ergebnis eines mehr oder weniger lustigen Lehrgangs, und wer während der Hauptferienzeit schon einige Schiffsführer kennen gelernt hat, weiß: So schwierig kann der Prüfungsstoff nicht gewesen sein.
Wie dem auch sei: Wenn man eine Segelyacht mietet, geht das Vergnügen erst richtig los, wenn die Länge des Bootes die zehn Meter überschreitet. Unter Experten heißt der Satz natürlich richtig: wenn die Länge 35 Fuß überschreitet. Beim Schiff fahren ist es nämlich wie bei anderen ominösen und nicht allen zugänglichen Tätigkeiten: Es regiert der Elitejargon. Was ein Fuß ist, weiß man zwar, aber wie viel das in Zentimeter ist, weiß man natürlich nur, wenn man ständig zur See fährt oder zumindest so tut. Dann sagt man auch so wunderliche Dinge wie "Backbord, zwei Strich nach Backbord"! Oder man konstatiert mit ausdrucksloser Miene, dass das Wasser eine Handbreit unter dem Schandeckel stehe, wobei der seekranke Laie nur zustimmend nicken kann, weil es mit seinem Mittagessen ähnlich ist. Dass eine Kabellänge kein verrosteter Metalldraht ist, sondern ein Längenmaß von 187,50 Metern, kann man als normaler Mensch auch nicht gleich ahnen.
Warum man beim Schiff fahren – Verzeihung: auf See – nicht einfach sagen kann, dass man weiter nach links muss, bleibt eines der großen Rätsel unserer Zeit. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, wieso ein einfacher Schrank in einer Segelyacht Schapp heißt. Nun ja, wenn es der Kursermittlung dienlich ist, wollen wir mal darüber hinweg sehen.
Apropos Kursermittlung. Als man noch nach gegisstem Besteck navigierte (sehen Sie, das verstehen Sie schon wieder nicht), da kam es schon mal zu Orientierungsproblemen. Wenn man nämlich darauf angewiesen ist, den Kurs alleine nach Orientierungspunkten an Land, nach der Kompassanzeige und unter Berücksichtigung der vermutlich herrschenden Strömungen zu berechnen, dann wird das Ergebnis nach und nach immer mieser, und die wirkliche Position weicht von der berechneten weiter und weiter ab. Man fährt also beispielsweise in Barcelona los und landet in Marseille, obwohl man eigentlich auf Ibiza in der Disco erwartet wird.
Dieses Problem gibt es heutzutage so nicht mehr. Das globale Positionierungssystem GPS beseitigt alle Zweifel und erlaubt auch Freizeitkapitänen, ihre Position genau zu bestimmen. Hätte es das schon 1492 gegeben, hießen die Indianer vermutlich nicht Indianer, sondern Karabiner, weil Kolumbus nicht auf die Idee gekommen wäre, er sei auf dem Weg nach Indien, sondern Vespucci hätte aufgrund der GPS-Daten gemeldet, dass man sich in der Karibik aufhielt.
Aber ich schweife ab. Zurück an Bord einer 12-Meter-Yacht. Vor der Ostküste Mallorcas herrscht Kaiserwetter, und zwar mit dem für Segler entscheidenden Nachteil, dass es fast windstill ist. Blaues Wasser, blauer Himmel, gelbe Sonne, braune Haut, knappe Bikinis, kalte alkoholfreie Getränke, aber eben kein Wind. Das Leben kann manchmal recht hart sein. Macht aber nichts, wenn man sich zu helfen weiß: Segel runter, alles auf Null, treiben lassen, Mann und Frau über Bord zum Abkühlen und Raubfischanlocken.
Während ich dem Treiben verträumt zuschaue, nähert sich aus der Ferne ein Schiff. Ein Segelschiff. Etwa gleich groß. Allein der Kurs gibt mir zu denken. Ich sehe das Schiff genau von vorne. Man stelle sich vor: Ringsumher nur Wasser, nur Wasser, nur Wasser. Kein weiteres Schiff. Die mallorquinische Küste ist so weit entfernt, dass man mit Mühe einen feinen dunklen Strich am Horizont ahnt. Aber dieses Schiff hält genau auf mich zu! Das grenzt ja an Willkür! Ohne Absicht geht das ja praktisch gar nicht!
Was tun? Motor anwerfen und aus der Schusslinie dümpeln? Hm, natürlich, das wäre eine Möglichkeit, aber dazu müsste ich die Badenden alleine zurücklassen – und ob das nahende Schiff für diese kleine Schar Menschen anhält? Eher nicht. Also standhaft bleiben. Wenn es zum Äußersten kommen soll, dann endet die Fahrt des Idioten eben hier und gleich. Keine Gefangenen!
In den nächsten Sekunden kriege ich keinen Schluck Rum, äh, ich meine, Mineralwasser herunter; das Glas klebt regungslos an meiner Handfläche und beschlägt leise vor sich hin. Dann wandert der Bug des Idiotenschiffs langsam nach links, äh, nach Backbord, also, ich meine, vom Idiotenschiff aus gesehen natürlich nach Steuerbord. Etwa fünfzehn Meter liegen zwischen uns, als der Kahn mein Wasserglas und mich passiert – und die Badenden, die vor Schreck das Wassertreten vergessen haben.
Am Ruder: niemand. An Deck: niemand. Vom Steuerrad führen zwei Taue zum Niedergang und hinunter in die Kajüte. Auch lautes Rufen führt zu keiner Regung. Ich überlege kurz, ob ich Brandpfeile in die feindliche Takelage schießen soll, verwerfe den Plan aber wegen zu großer Komplexität. Ich wüsste schon gar nicht, wo ich auf die Schnelle mein Glas abstellen sollte.
Was geht da drüben nur vor? Es bleibt eigentlich nur eine Möglichkeit: Der Skipper pennt. Was ihn so ermüdet hat, bleibt sein Geheimnis. Die Seeluft, Alkoholmissbrauch, körperliche Betätigung jedweder Art? Wir wissen es nicht. Heutzutage kann man auch nicht ausschließen, dass es sich um eine neue Trend- oder Extremsportart handelt, beispielsweise Schlafsegeln. Immer nordwärts, Richtung Menorca.
Hoffentlich kreuzt er unterwegs die Route eines Fährschiffs. Das ist leichter zu treffen.
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©2007 Julius Moll
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