Donnerstag, 3. Januar 2013

Gebrauchsanweisung, Gebrauchsanleitung und Richtlinie

Dass sich keiner mehr wirklich zurecht findet, wundert nur den Laien. Dabei ist die Welt doch einfach, wenn man die Gebrauchsanweisung genau liest. Das haben wir eigentlich schon von Douglas Adams gelernt (Ganz recht: Per Anhalter usw.). „Oh Gott, bin ich deprimiert“, sagt Marvin dort. Welch eine Erkenntnis, besonders dann, wenn die Depression von kybernetisch geschaltkreisten Dioden herrühren. Aber liest er sie, seine Gebrauchsanleitung? Nein!

Auch nicht die Gebrauchsanweisung – wobei es fraglich ist, ob Marvin den feinen Unterschied zwischen diesen beiden Veröffentlichungsformen überhaupt erkannt hat. Heimtückischerweise mit gleichen Vokalen in identischem Raster ausgestattet, liest sich -anweisung ja auch fast wie -anleitung.
Dass man nach dem Lesen der Gebrauchsanweisung für einen Konzertflügel natürlich noch kein Leonard Bernstein ist, ist ein erklärbarer, wenn auch verbesserungsbedürftiger Mangel im System. Doch abgesehen davon bevorzuge ich meinerseits stets die Anleitung. Die wirkt, was den Namen angeht, so frei, so ungebunden. Nicht so dogmatisch wie eine Anweisung. Es sei denn, ich finde eine Richtlinie. Dann nehme ich die.

Eine meiner liebsten Richtlinien zum Beispiel ist die Richtlinie zur Unfallverhütung in Lehrküchen in Oberösterreich. Warum gerade diese? Nun, das ist einfach erklärt. Unter dem Unterpunkt d) (direkt nach Hauptpunkt 2 (die Nummerierung und Aufzählung ist in diesem Werk leider noch suboptimal, wirkt fast wie mit dem Nummerierungsassistenten von Microsoft Word generiert, aber ich schweife ab) findet sich der zitierfähige Absatz Gefahrenquelle Dampfdruckkochtopf.

Der einzig hier enthaltene Unter-Unterpunkt (Titel: „Sachgerechter Umgang“) sagt nämlich nicht nur: „Vor Gebrauch Ventil und Dichtungsring überprüfen“, „Sorgfältig schließen“, „Nicht überhitzen“ und „Vor dem Öffnen abkühlen, damit der Druck im Inneren abnimmt (kaltes Wasser über den Deckel fließen lassen)“ – das hätten wir uns alle auch selbst denken können – nein, da steht auch ein eherner Leitsatz, der Schlüssel zum Dampfdruckfass der Pandora, nämlich: „Gebrauchsanleitung lesen“. Ist doch ganz einfach.

Diese einfache Regel hätte anderen Menschen beim Umgang mit Pavianen und der Unverwundbarkeit einiges erspart. Ich zitiere (und zwar nicht aus Tifflor, der Pavian von Perry Rhodan, sondern aus dem Standartwerk DonkeyKong64, Abteilung „Cheats und Hints“ von Norbert Zimmermann, also DER Gebrauchsanleitung schlechthin):

… 4. Im Vorraum zur Kristall-Kaverne muss man mit Chunky schon die Eingänge aus Eis links und rechts mit dem „Primaten-Punch“ geöffnet haben. Man rennt in die andere Höhle, in der alles voller Lava ist und sammelt die goldene Banane ein.

Jetzt geht man zum Eingang über die zwei Sandbecken und schießt dann links auf die beiden Kokosnuss-Schalter. Man springt in das Unverwundbarkeitsfass und rennt in die Mitte des Raumes. Auf der Brücke ist ein fetter Kremling, der nach dem Besiegen die Blaupause hinterlässt (bei Snide dafür eine goldene Banane).

In Crankies Labor kauft man den „Pavian-Perplexer“, jetzt kann man zurück zur Anfangs-Lichtung und dann nach links, man klettert auf die Palme, bei der Lianen sind, und schwingt bis zu der Plattform. …

Alles klar? Alles mitbekommen? Auch die Sache mit dem Pavian-Perplexer aus Crankies Labor? Wäre, würde, hätte man das mal vorher studiert, dann könnte man auch eine deutsche Waschmaschine bedienen.

©2012 Harnfried Schoßmüller-Knappentropf

Mittwoch, 3. November 2010

Eine kleine Nachtmusik


Als Gesine fragte: "Kannst du mich und meine Freundinnen zum Flugplatz fahren?", hätte ich bereits misstrauisch werden müssen. Ein oder zwei Mal im Jahr machten die Damen einen Ausflug. Städtetouren mit Modenschauen und Einkaufsbummel, so etwas in der Art. Nichts also, woran man als normaler Mann unbedingt teilnehmen müsste. Aber zum Flughafen fahren? Das klang nach der Pflicht eines Kavaliers und Ehemannes, der man sich ehrenvoll stellen musste.
Die Damen hatten sich diesmal Salzburg als Ziel erwählt. "Da ist auch Mozarts Geburtshaus", flötete Gesine. "Wusstest du das?" Der Tonfall ihrer Frage erinnerte mich entfernt und unangenehm an verdrängungswürdige Momente meiner Schullaufbahn. Aber natürlich wusste ich das mit Mozart. Was ich allerdings nicht wusste war, was Mozart mit Mode und Einkaufen zu tun hat. Vermutlich handelte es sich um ein Ablenkungsmanöver. Kosten für Partituren würden auf meiner Kreditkartenabrechnung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auftauchen.
Aber zunächst mussten die Damen ihr Flugzeug erreichen, Mozart hin, Mode her. Und es wäre ja alles nicht so schlimm gewesen, wenn es diese verfluchten Billigflieger nicht gäbe. Die Hölle möge sie verschlingen! Die Damen hatten sich nämlich einen zusätzlichen Preisvorteil von sage und schreibe 12 Euro erkauft, und zwar mit einer Abflugzeit von 04.50 Uhr.
04.50 Uhr!
Das klingt nicht nur recht früh, doch immerhin neigt sich die Nacht zu dieser Zeit bereits ihrem Ende entgegen. Nun ist allerdings die Abflugzeit nur der Kopf eines nächteverschlingenden Monsters. Sobald sich dieses Monster aus der Versenkung erhebt, liest man auf seinem Körper in grauenhaft blutroten Lettern, dass man spätestens eine Stunde vor Abflug am Flugplatz zu sein hat. Bei einer Fahrtzeit von einer halben Stunde von der Wohnung zum Terminal bedeutet dies: Abfahrtszeit 03.20 Uhr. Eintreffen der Damen zwischen 02.30 und 03.00 Uhr, denn Pünktlichkeit ist ja bekanntlich die Höflichkeit der Königinnen.
Nun könnte man ja zunächst vermuten, dass das alles nicht so schlimm ist, weil man ja um diese Zeit noch im Halbschlaf vegetiert und sich die allgemeine Reisehektik, verbunden mit laut artikuliertem Meinungsaustausch über die Gefahren der bevorstehenden Teilumrundung des Erdballs, in einigermaßen erträglichen Grenzen hält.
Wie gesagt, das könnte man vermuten. Da kennen Sie aber Gesines Freundinnen schlecht!
Gegen 02.30 Uhr brach eine Woge hochfrequenter Vokallaute über unser stilles Heim herein, und ich begann sofort krampfhaft zu überlegen, was ich zu tun hätte, um die Autofahrt physisch und psychisch einigermaßen unversehrt zu überstehen. Vermutlich lag es an der Uhrzeit, dass es fast zehn Sekunden dauerte, bis mir mein letztes Geburtstagsgeschenk einfiel. Ein Stück Manna, das mir ein mitleidiger Beobachter aus dem Ingenieurshimmel zugeteilt hatte; eine Falle, in die Gesine getappt war, indem sie mich gefragt hatte: "Was wünscht du dir denn eigentlich zum Geburtstag? Es ist immer so schwer, etwas für dich zu finden! Du hast ja schon alles!"
Von wegen!
Aber in diesem Fall hatte ich nicht widersprochen, sondern mir einfach einen Stereokopfhörer gewünscht.
Und zwar einen mit Außengeräuschdämpfung. Entwickelt für Luxuslimousinen. Spezialmikrofone nehmen den Umgebungslärm auf und kontern ihn mit Schallwellen spiegelverkehrter Amplitude. Das Ergebnis: himmlische Ruhe.
Ich nahm also den Kopfhörer mit ins Auto, stöpselte ihn in das Radio und gab vor, so besser den Verkehrsnachrichten lauschen zu können, damit wir auch ja rechtzeitig am Flugplatz einträfen. Eine halbe Stunde lang schwebte mein Gehirn in einem Meer der Ruhe, auch wenn ich im Rückspiegel erkennen konnte, dass sich die Lippen meiner Mitfahrerinnen unablässig bewegten.
Dieser paradiesische Zustand fand sein Ende, als wir am Flughafen eintrafen. Notgedrungen musste ich den Kopfhörer ablegen und im Auto zurücklassen, damit ich den Damen beim Gepäck zur Hand gehen konnte.
In der Abfertigungshalle herrschte ein Betrieb wie in Neu-Delhi zur Rushhour. Offenbar waren auch noch andere Sparfüchse auf die Idee gekommen, Zeit in Geld zu verwandeln. Ein Meer von flugwütigen Stadtentdeckern wogte vor den Schaltern. Als sich Gesine und die Damen schließlich bis zum richtigen Schalter durchgekämpft hatten, wünschte ich viel Spaß und beabsichtigte, das Schlachtfeld zügig zu verlassen. Leider kam ich nicht sehr weit.
"Warte, du musst uns helfen!" Gesine war mir hinterhergelaufen und hielt mich am Oberarm fest.
Warum bloß hatte ich den Kopfhörer im Auto gelassen?
"Edeltraud hat Übergewicht!", rief Gesine.
Das war mir zwar auch schon aufgefallen, aber wieso kamen sie mit diesem Problem ausgerechnet zu mir?
"Ihr Koffer ist zu schwer!", fügte Gesine hinzu.
Ach so, der Koffer also auch.
"Und jetzt muss sie Gebühr dafür zahlen", berichtete Gesine weiter.
"Na, dann soll sie das doch tun", schlug ich naiv vor.
Gesine blickte mich vorwurfsvoll an. "Darauf sind wir auch schon gekommen. Aber sie hat zu wenig Bargeld dabei."
Das interessierte mich jetzt zumindest technisch. "Zu wenig Bargeld? Äh, wieviel wiegt denn der Koffer?"
"27 Kilo", sagte Gesine stolz.
27 Kilo? Für drei Tage Salzburg? Und wie hatte Edeltraud Lyskirchen dieses Monster vom Auto bis zum Schalter tragen können? Machte die heimlich Bodybuilding? Die Hochachtung vor dieser sportlichen Leistung wuchs fast ebenso schnell wie die Sehnsucht nach dem Kopfhörer.
"Dann leiht Ihr doch das Geld", sagte ich vorsichtig.
Gesine stemmte die Fäuste in die Hüften. "Du hältst dich wohl für sehr klug? Wir haben auch nicht genug. Else hätte zwar, aber ihre Geldbörse ist im Koffer, und der ist schon eingecheckt."
Ah, endlich war es heraus! Sie wollten an mein Geld. Das würde eine herbe Enttäuschung geben. "Ich habe auch keins, nur meine Brieftasche. Schließlich will ich ja nur zurück ins Bett."
Gesine sah mich an, wie es die Fernsehkommissare tun, wenn sie eine Schwachstelle im Alibi eines Serienmörders gefunden hatten. "In deiner Brieftasche ist aber auch deine EC-Karte", sagte sie triumphierend.
O je. Entrinnen war nicht möglich. Sie hatten mich. Also auf zum nächsten Geldautomaten. Allerdings täuscht hier das Wort "nächsten". Ich war rund 10 Minuten in leichtem Trab unterwegs, bis ich einen fand. Glücklicherweise war er nicht defekt.
Als ich einige Minuten später in die Abfertigungshalle zurückkehrte, fand ich sie verblüffend leer vor. Wo eine gute Viertelstunde zuvor noch das schiere Chaos regiert hatte, herrschte nun beunruhigende Stille. Verwunderlich irgendwie, zumal weder Gesine und ihre Damen zu sehen waren noch Edeltraud Lyskirchens Monsterkoffer. Und der zumindest hätte da ja noch stehen müssen.
Es dauerte keine drei Minuten, bis ich nach einigen kurzen Gesprächen mit Ortskundigen den Fehler gefunden hatte: Ich befand mich in Flügel C. Lufthansa und so weiter. Gesine und die apokalyptischen Heerscharen waren in Flügel A. Der Geldautomat in Flügel B. Falsche Richtung. Kann um die Uhrzeit passieren. Also kehrt, Marsch!
Unglücklicherweise sah es im Flügel A inzwischen auch so ähnlich aus wie in Flügel C. Wo waren all die Menschen? Immerhin gab es einen wichtigen Unterschied: Edeltraud Lyskirchen und ihr Koffer waren noch da. Die Dame blickte mir regungslos entgegen, wobei mir eine steile Falte zwischen ihren Augenbrauen auffiel.
"Ah, Frau Lyskirchen! Wo sind denn die anderen Damen?"
Was so freundlich und interessiert gemeint war, trug rückblickend leichte Züge von Ironie.
Frau Lyskirchen deutete nämlich streng mit dem Daumen in Richtung Flugsteig. "Die sitzen inzwischen im Flugzeug nach Salzburg", sagte sie gefährlich leise.
Mir schwante Fürchterliches. "Was denn, ohne Sie?"
Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände, aber sie kleidete ihn auch noch in Worte: "Leider waren Sie ja nicht früh genug zurück mit dem Geld!"
Krampfhaft versuchte ich mir über die Konsequenzen klar zu werden, schaffte es aber nicht ganz. "Und jetzt?", fragte ich deshalb ratlos.
Sie sah mich durchdringend an. "Nun, Ihre Frau hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Da Sie es verbockt hätten, würden Sie es auch wieder gutmachen und mich mit dem Auto nach Salzburg bringen."
Meine mentale Paralyse löste sich erst, als ich versuchte, ihren Koffer irgendwie zu bewegen. Und als ich dann endlich völlig ausgepumpt hinter dem Steuer saß, konnte ich wenigstens noch zwei winzige Teilerfolge feiern. Zunächst gelang es mir, Edeltraud Lyskirchen davon zu überzeugen, dass man im Fond sicherer aufgehoben ist als auf dem Beifahrersitz, zumal auf solch einer langen Fahrt, und dann musste sie noch einsehen, dass Verkehrshinweise mit Kopfhörer einfach verlässlicher abzuhören sind.

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(c)2010 Julius Moll.

Samstag, 1. Mai 2010

Offener Brief


Sehr geehrter Herr Landrat,

bitte erlauben Sie mir, mit diesem Schreiben den vorbildlichen Einsatz Ihrer Mitarbeiter loben: Wirklich erste Klasse!

Als ich am Vormittag des Karfreitags durch Kalsbach raste, auf dieser gefährlichen, weil gut ausgebauten Strecke, die geradezu einlädt, das Maß für Geschwindigkeit zu verlieren, und dabei von Ihrem Mitarbeiter durch ein grelles, rotes Licht in die Realität zurückgeblitzt wurde, war mein erster Gedanke: Verdammter Mist, das gibt’s doch nicht! Dann aber ging es mir auf: Welch ein selbstloser Einsatz! Am Feiertag! Großartig! Anstatt den Tag mit Frau und Kindern zu Hause zu verbringen, fährt dieser wackere junge Mann frühmorgens mutterseelenallein hinaus und tut zwei gute Dinge gleichzeitig: Er schützt die Bürger vor potentiellen Mördern und saniert den Haushalt des Landkreises. Chapeau!

Auch die Denker und Lenker dahinter sind zu loben. Menschen mit Übersicht und Augenmaß, von denen es leider zu wenige gibt. Hier aber gibt es sie, und sie tun ihre Pflicht. Sie sorgen dafür, dass wir alle ein warmes Gefühl von Sicherheit verspüren dürfen, und erinnern uns daran, dass wir nicht allein sind.

Während ich so weiter fuhr und nachdachte, kamen mir viele Ideen zu diesem Thema. Und die möchte ich nicht für mich behalten. Nein, ich möchte helfen, möchte mich fürs Gemeinwohl einbringen. Und so erlauben Sie mir bitte, Ihnen wenigstens einen dieser Gedanken mitzuteilen.

Die Idee der Geschwindigkeitskontrolle als Profitcenter ist ja nicht ganz neu, aber bewährt. Man sollte sie auch unbedingt beibehalten. Nur die Ausführung war in diesem Fall suboptimal. Die Straße durch Kalsbach fühlt sich durch ihre Breite, ihren Belag, ihren ganzen Ausbau wie eine Strecke an, auf der man locker siebzig fahren könnte, die aber auf fünfzig begrenzt ist. Als geschlossene Ortschaft kann man die Straße auch nicht wirklich bezeichnen. Gefühlt, meine ich. Sie, Herr Landrat, können ja, und haben auch. An vielen, ungezählten anderen Stellen – auch in unserem Kreis – sind vergleichbare Ortsdurchfahrten auf siebzig Stundenkilometer begrenzt. Und hier möchte ich ansetzen. Deklarieren Sie die Kalsbach-Durchfahrt doch bitte als Dreißigerzone! Das wäre doch viel ergiebiger!

Eigentlich liegt es doch auf der Hand: Ich zum Beispiel preschte an jenem Karfreitag mit 56 km/h durch Kalsbach, direkt vor mir fuhr dieser Golf mit den zwei Damen und den beiden Hunden, ebenfalls im Geschwindigkeitsrausch. Dafür sind auch sie geblitzt worden. Aber, und jetzt folgt die Pointe: Sechs Stundenkilometer zu viel bringen doch gerade mal 15 Euro in die Kasse!

Zudem war auch das Verkehrsaufkommen denkbar gering! Und dennoch opferte Ihr junger Mitarbeiter seine Zeit. Vermutlich mit Feiertagszuschlag. Ja, lohnt sich das denn? Wenn das eine Dreißigerzone wäre, hätte sich der ganze Aufwand doch viel besser gerechnet! Da wären doch mindestens 80 Euro zusammengekommen. Pro Auto! Und dreißig zu fahren macht an dieser Stelle genauso viel – respektive wenig – Sinn wie fünfzig. Aber fürs Gemeinwohl wäre es doch viel nützlicher.

Ehrlich gesagt, habe ich mir auch schon zarte Vorwürfe gemacht, dass ich so zögerlich gefahren bin. Ein bisschen mehr Engagement hätte wohl dabei sein dürfen. Da sollte ich vielleicht mal meinen Egoismus hinterfragen. Jedenfalls habe ich mich nach intensivem Nachdenken dazu entschlossen, Ihnen statt der geforderten 15 Euro freiwillig 17 Euro zu überweisen. Verstehen Sie die zusätzlichen 2 Euro bitte als pekuniäres Schulterklopfen, verbunden mit der Aufforderung: Weiter so!

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Paul Schmitz


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©2010 Paul Schmitz

Montag, 5. April 2010

Wie man in der Fremde Schuhe kauft.

Man kennt das: Irgendwer hat immer ein Paar Schuhe weniger als gewünscht. Dann heißt es, ein Schuhgeschäft zu finden. Richtig interessant wird es, wenn gewisse Bedingungen an die fehlende Fußbekleidung gestellt werden, beispielsweise: Die Farbe ist egal – Hauptsache, sie sind rot. Was ganze Lebensgemeinschaften zerrütten kann, ist aber gleichzeitig auch eine Chance und Herausforderung. Wie gut, dass es Leute wie die Schuhsucher gibt, die vorführen, wie man derartige Probleme mit angemessener Würde löst, auch im befreundeten Ausland.



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Ein Film von Fedor von Hengstenberg
©2010 FvH/Smartists

Montag, 15. März 2010

Mörderisches Vergnügen 2010

Na, das war ja wieder ein schöner Abend dieses Jahr. Da freuen wir uns mal auf das nächste "Mörderische Vergnügen" im März 2011 – dann bereits zum zehnten Mal.



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Ein Film von Fedor von Hengstenberg
©2010 FvH/Smartists

Dienstag, 10. Februar 2009

Toskanische Momente


Als Gesine vorschlug, in die Toskana zu fahren, war ich irgendwie erleichtert. Bei ihren Freundinnen standen zurzeit ganz andere Reiseziele auf der Tagesordnung: Je nach Jahreszeit entweder Club-Urlaub in der Türkei oder Weihnachtsmarktbesuche in Nürnberg oder Dresden. So etwas in der Art. Zeitvertreib also, den man nicht unbedingt braucht und der einem normalen Mann durchaus an die psychische Substanz gehen kann. Verglichen damit wirkte die Toskana wie ein himmlischer Ort.
Über das Transportmittel herrschte ebenfalls recht schnell Einigkeit. Ja, ich weiß: Aus ökologischen Gründen müsste man mit der Eisenbahn fahren. Dagegen spricht ja im Prinzip auch gar nichts. Doch liegt der Teufel wie so oft im Detail. Die Langstrecke an sich ist nicht das Problem; es sind die letzten 50 Kilometer. Überlegen Sie doch: Sie steigen in Pisa, Florenz, Siena oder gar Piombino aus dem Zug (immer vorausgesetzt, diese Orte sind wirklich ans Schienennetz angeschlossen), was dann? Wie geht es dann weiter?
Bus? Mit all dem Gepäck? (Und ich spreche nicht von meinem Gepäck.)
Taxi? Ich bitte Sie! Da muss man ohnehin aufpassen wie ein Schießhund, dass man nicht übers Ohr gehauen wird, und dann noch in einem fremden Sprachraum? Nein, nein.
Bliebe ein Mietwagen. Aber ich muss sagen, dass ich kein Mietwagen-Typ bin. Da weiß man doch gar nicht, welche Rabauken vorher mit dem Auto gefahren sind. Vielleicht haben sie etwas kaputt gemacht und bei der Rückgabe nichts gesagt? Dann tritt man vor der Einfahrt zu einem Weingut auf die Bremse und wundert sich, dass man ohne merkliche Verzögerung durch die Pinienallee schießt und koppheister an der nächsten Zypresse endet. Fazit: Eigener Herd ist Goldes wert, und das gilt auch fürs eigene Auto. Entweder richtig oder gar nicht.
Wir sind dann also los. Ich gebe zu: Nach einigen hundert Kilometern, spätestens kurz vor der schweizerischen Grenze, melden sich untergründig Zweifel an der Entscheidung zugunsten der Autofahrt. Aber dann: Helvetien! Hohe Berge, grüne Matten, puppenstubenartige Häuser, Serpentinen, Tunnel so lang wie die Eifel.
Und quasi anschließend: Italien. An der ersten Mautstation regt sich noch die vage Hoffnung, dass der Sprit im Preis enthalten sei. Siebenundzwanzig Mautstationen und drei Kilometer weiter hat man sich von dieser lustigen Idee verabschiedet. Und recht schnell erkennt man neidlos an, dass die Italiener diese Wegelagerei als Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip vervollkommnet haben. Kurz nach Mailand ist nämlich plötzlich Schluss mit Mautstationen auf der Autobahn. Die Erleichterung darüber hält aber nur so lange, bis man im Vorbeifahren aus dem Augenwinkel bemerkt, dass es an jeder Ausfahrt eine gibt. Ab diesem Punkt materialisiert sich im Kopf ein Zählwerk, dass gleichzeitig die Beträge der eigenen Tages- und Festgeldkonten sowie die aktuellen Aktienkurse zusammenrechnet, um festzustellen, ob man überhaupt noch in der Lage sein wird, sich an der Zielausfahrt freizukaufen.
Aber es sollte ohnehin alles anders kommen.
Wir hatten Parma hinter uns gelassen und die Berge erklommen. Von da ab ging es grundsätzlich bergab, Richtung La Spezia. Hinter einem kurzen Tunnel ein Schild: „Willkommen in der Toskana“. Und kurz nach dem Schild: Versagen der Benzinpumpe. Gesine bemerkte den Schaden, allerdings nicht am widerwilligen Ruckeln des Fahrzeugs, sondern an meinem analytischen Gesichtsausdruck.
„Alles in Ordnung?“
„Nein. Auto ist kaputt.“
Wir hatten Glück im Unglück: Knapp zwei Kilometer bergab gab es eine Autobahntankstelle. Einige Telefonate später kam die Hoffnung auf, dass es einen Abschleppdienst gebe. Einziger Haken: Es war natürlich Freitag Nachmittag. Dennoch trafen anderthalb Stunden später zwei Beauftragte der nächstgelegenen Werkstatt ein, wobei das Wort nächstgelegen relativ zu verstehen ist. Ich wunderte mich zunächst, dass auf der Ladefläche bereits ein anderes Auto mit zwei Passagieren stand, und fragte mich, wie sie uns da mitnehmen wollten. Doch die beiden Nothelfer, gekleidet in blaue Trikots ihrer Fußballnationalmannschaft, fuhren zwei Rollen aus dem Heck des Lasters. Dann schoben sie mein Auto mit den Vorderrädern darauf und hoben die Rollen hydraulisch um zwanzig Zentimeter an. Fertig. Vorderräder am Laster, Hinterräder auf der Straße. Wir würden auf jeden Fall Sprit sparen.
„Wieder in Auto!“, bedeutete der eine. „Und nix bremse! Attentione! Nix bremse!“
Nun, das leuchtete ein. Nicht bremsen! Ich bin ja nicht blöd!
Also ging es los, weiter bergab, Richtung La Spezia. Allerdings nur rund zehn Kilometer. Dann nahm der Schlepper die Ausfahrt, und während ich noch heiter dachte: „Das war ja gar nicht weit“, hielten wir an der Mautstation. Der Kassierer entpuppte sich als pflichtversessener Pedant: Er kassierte nicht nur beim Fahrer des Abschleppwagens, sondern auch bei den Menschen auf der Ladefläche und natürlich bei mir. Und ich hatte in Mailand letztmals gezahlt, was ihn zu freuen schien. Vermutlich nahm er nicht jeden Tag derartige Summen ein.
Allerdings kam ich nicht dazu, allzu sehr mit meinem Schicksal zu hadern, denn während ich missmutig nach der Werkstatt Ausschau hielt, nahm der Abschleppwagen die gegenüberliegende Auffahrt und setzte die Reise rückwärtig fort, wieder bergauf, Kilometer für Kilometer, und zwar Kilometer, für deren Befahrung ich bereits Gebühr bezahlt hatte. Mir schwante nichts Gutes.
„Wohin fahren die Männer?“ wollte Gesine verwirrt wissen.
„Zur Werkstatt natürlich. Wohin sonst?“
Nun gebe ich zu, dass diese Art der Fortbewegung gewöhnungsbedürftig ist. Man sitzt im Auto wie immer, nur ein wenig nach hinten geneigt, und fährt knapp einen Meter hinter einem Laster her, ohne dass man Geschwindigkeit, Abstand und Richtung irgendwie beeinflussen könnte. Zudem wippt das Auto bei jeder Bodenwelle sanft auf und ab. Es ist durchaus merkwürdig, wobei der Ausdruck „merkwürdig“ die Gefühle nicht exakt beschreibt. Gesine jedenfalls hatte ihr Tagebuch aus der Handtasche gezogen und begonnen, an einem Entwurf ihres Testaments zu arbeiten, wobei sie leise vor sich hin jammerte.
Mich plagten ganz andere Sorgen. Mir fiel nämlich plötzlich auf, dass ich mit den beiden Tifosi im Cockpit keinerlei Kommunikationswege vereinbart hatte. Und Kommunikation wird ja häufig unterschätzt, beispielsweise dann, wenn man mitteilen möchte, dass einem in Kürze die Blase platzen wird. Und genau dieser Notfall bahnte sich mit Macht an.
Nun hätte ich hupen können. Aber unter uns: Wir waren in Italien. Da fiel man höchstens auf, wenn man nicht hupte. Und da ich die ganze Zeit über nicht gehupt hatte, wusste ich ja bereits, dass das auch nicht helfen würde. Nun hätte ich mein Händi benutzen können, mit immerhin fast tausend Nummern im Speicher. Sie ahnen es: Die der beiden Abschlepper waren nicht darunter. Kurz beleuchtete ich noch die Idee, das Fenster herunterzukurbeln und laut zu rufen und zu gestikulieren. Aber erstens machten Fahrtwind und Abschleppwagen einen Lärm wie zwanzig Mähdrescher, so dass die Akustik als Hilfsmittel ausfiel, und zweitens war der Laster viel höher und breiter als mein Auto, so dass ich mir auch optisch wenig Aussicht auf Erfolg versprach.
Irgendwann kam dann der Moment, an dem sich die biologischen Grundmechanismen ihre Bahn brachen, der Moment, an dem ich verzweifelt die Bremse betätigte. Unser Auto sprang aus der Vorderradauflage und hüpfte zwei, drei Mal mit den Federbeinen, bis es sanft auf dem Seitenstreifen ausrollte, begleitet vom schrillen Quietschen der Bremsen des Abschleppwagens, dessen Fahrer von meiner einsamen Entscheidung ebenso überrascht worden war wie die Insassen des anderen Havaristen auf der Ladefläche, deren Auto von dem Bremsmanöver hart in die Halteketten gedrückt wurde und sich deshalb spontan entschloss, die Airbags auszulösen. Als die Nitrozellulose-Sprengsätze knallten, stand ich bereits wohlig seufzend an einem Busch neben dem Seitenstreifen und ließ die Physiologie zu ihrem Recht kommen.
Unglücklicherweise hielt in genau diesem Augenblick der körperlichen und seelischen Erleichterung ein Polizeiauto neben mir. Nach einem Versuch in italienischer Sprache versicherte mir der Carabinieri in gebrochenem Deutsch, dass ich da soeben etwas sehr Ordnungswidriges tat. Außerdem wollte er wissen, wer die bewusstlose Dame in meinem Fahrzeug sei und was ich mit ihr angestellt habe.
Um es kurz zu machen: Wenig später waren fast alle Beteiligte auf getrennten Wegen unterwegs. Der Abschleppwagen mit zwei entsetzten Passagieren nebst erschlafften Luftsäcken auf der Ladefläche in Richtung Werkstatt, mein Auto mit einem zweiten Abschleppwagen in Richtung anderer Werkstatt, Gesine mit einem Krankenwagen in Richtung Hospital, und ich mit den Carabinieri in Richtung Polizeistation.
Gesine und das Auto habe ich erst am nächsten Tag wiedergesehen. Kreislauf und Benzinpumpe liefen wieder. Wir sind dann nicht in die Toskana gefahren. Vielleicht nächstes Jahr.

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©2009 Julius Moll

Mittwoch, 12. November 2008

Von Prellböcken und tanzenden Rentnern



Mitunter liest und hört man ja Erstaunliches über diverse Verkehrsmittel. Dabei will ich Flugreisen mal ausnehmen, obwohl auch dabei für den Laien dies und das unklar bleibt. Einem Außenstehenden ist ja nicht so ohne weiteres klar, wieso man auf dem Flug von Köln nach München beispielsweise vom Kapitän erfährt, dass man die Reiseflughöhe von 9000 Metern erreicht habe, aber gleich wieder mit dem Sink- und Landeanflug begönne. 9000 Meter! Warum so hoch, fragt sich der Uneingeweihte unwillkürlich. Wäre es nicht viel weniger riskant, wenn man nur in 10 Metern Höhe flöge? Nur für den Fall, dass mit dem Flugzeug irgendetwas nicht stimmt?
Profis beantworten diese Vorbehalte mit dem lässigen Hinweis, dass man auf 9000 Metern Höhe eben genau in diesem Fall viel länger Zeit hätte, um auf den Fehler zu reagieren, was bei 10 Metern kaum möglich wäre. Insgesamt muss man vermutlich mit der Weisheit leben, dass man sich für jeden Flug einen Sitz ganz vorne reservieren sollte, weil man dort sicher ist, dass im Rahmen eines Absturzes der Getränkewagen noch mal vorbei rollt.
Bei Bahn, Bus und Auto stellt sich das Problem der Reisehöhe ja nicht, zumindest nicht im Normalbetrieb. Wer eine Landstraße mit einem Kleinwagen und 120 Stundenkilometern befährt und an der erstbesten Kurve von den Pneus geholt wird, kann sich natürlich auf einer sehr schönen Flugbahn in ein Weizenfeld katapultieren lassen. Aber davon, wie gesagt, soll hier nicht die Rede sein. Normalerweise ist bei Bus, Bahn und Auto die systemimmanente Reisehöhe gleich Null.
Aber auch dann kann es zu schweren Unfällen kommen. Ohnehin ist ja – auf die Personenkilometer berechnet – die Flugreise noch die sicherste Art zu reisen. Aber was nutzt einem die beste Statistik, wenn man an Bord einer Unglücksmaschine sitzt? Bei Busreisen gilt Ähnliches. Vor Kurzem haben das einige Rentner erfahren müssen, deren Reisebus ausbrannte. Leider gab es Tote und und Verletzte. Der Nachrichtensprecher im Radio erklärte dazu noch, dass sich viele dieser Rentner ohnehin nur mit Gehhilfen bewegen konnten und daher recht hilflos waren, als das Unglück über sie hereinbrach. Doch selbst bei einem solch dramatischen Zwischenfall, den man sich mit ausreichender Hollywoodfilmerfahrung quasi bildlich vorstellen kann, irritieren manche Details. Beispielsweise, wenn der Radiosprecher in einem Nebensatz sagt, dass sich die bekrückten Rentner auf der Rückfahrt von einer Tanzveranstaltung (!) befunden hätten.
Nun ja, man kann nicht immer leicht hinter die Kulissen blicken. Auch nicht bei der Sicherheitsplanung der Bahn. Selbst wenn wir die leidigen Bruchachsen der ICE-Züge mal außer Acht lassen, erfährt man hin und wieder Erstaunliches. Da rollt beispielsweise ein Güterzug mit Kohle durchs Land und lässt sich plötzlich nicht mehr bremsen. Die Situation verschärft sich, als die Strecke auch noch abschüssig wird und der Zug beschleunigt. Die Nachrichten melden, dass der Zug erst von einem Fabrikgebäude gestoppt wurde, und zwar an einer der inneren Brandmauern.
Wie geht es den Zugführern?, sorgt man sich umgehend. Nun, es geht ihnen gut. Sie sind vorher abgesprungen – ein Verhalten übrigens, dass man sich in der christlichen Seefahrt überhaupt nicht vorstellen könnte. Warum sind sie abgesprungen? Dies erklärt ein Sicherheitsexperte der Bahn im Interview. Es gebe nämlich zwei rigorose Sicherheitsstufen für solche Züge. Die erste sei das Bremssystem. Wenn dieses ausfiele, haben die Zugführer die Anweisung, Führerstand und Zug umgehend und fluchtartig zu verlassen. Passieren könne eigentlich nichts, denn es gebe ja eine zweite Stufe: Die Notgleise. Dort würden die bremsfreien Züge am Ende durch einen Prellbock gestoppt.
Im geschilderten Fall allerdings griff keine der beiden Sicherheitsstufen. Der Zug überfuhr den Prellbock locker und souverän und bohrte sich wenig später ins nächste Gebäude. Das Undenkbare war passiert: Zwei Sicherheitstufen durchbrochen!
Was die Notfallplaner der Bahn offenbar nicht wussten: So ein voll beladener Güterzug mit Kohle ist ziemlich schwer. Dieser wog rund 180 Tonnen. Und hatte Tempo 70 drauf, ungefähr. 180 Tonnen! Die Vorstellungskraft des menschlichen Geistes will schier versagen ob der Aufgabe, sich die Ausmaße des Prellbocks vorzustellen, der diesen Zug abrupt stoppen könnte. Nicht so die Experten. Da steht im technischen Definitionshandbuch: Prellbock, Vorrichtung zur Notbremsung eines Schienenfahrzeugs. Was will man mehr?
Jetzt müsste man nur noch mal in Erfahrung bringen, ob die Bahn in ihren Zugrestaurants für besonders Hungrige als Hauptgang ein gekochtes Wachtel-Ei serviert. Dann hätte dies alles zumindest ein gewisses System.
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©2008 Julius Moll

Freitag, 13. Juni 2008

Watch Watching


Als sie George W. Bush die Uhr geklaut haben, hat die ganze Welt gelacht. Und ich auch. Dabei dachte George W. Bush, er wäre unter Freunden. Albanien dürfte so ziemlich die letzte Bastion Europas sein, wo Georgie ein Bad in der Menge nehmen kann. Was er bei seinem Staatsbesuch letztes Jahr auch getan hat: Jubel, Händeschütteln, erfreute Gesichter. Und dann war seine Uhr weg.

Sie haben es im Fernsehen gezeigt, aber ich bin sicher, dass seine Uhr nicht viel wert gewesen ist: protestantisch vertrocknet wie der ist, hatte er garantiert nur einen billigen Wecker am Handgelenk. Egal, jetzt trägt seine Uhr ein anderer. Und ich lach immer noch über die Geschichte.

Ja, ja, so sind sie halt, die Albaner: arm, verschlagen, unehrlich. Nicht wahr? Oder etwa nicht?! Jetzt mal ganz ehrlich: Wissen Sie, wie die Albaner so sind? Nicht die Geschichten, die Sie irgendwo von irgendwem mal aufgeschnappt haben und die irgendwie jeder kennt. Und meistens auch die Kosovaren meinen. Ich meine die Albaner. In Albanien. Nicht die im Kosovo.

Grämen Sie sich nicht: kaum einer weiß, wie die Albaner so sind. Weil niemand Albanien kennt. Nicht mal geographisch. Bei einer spontanen kleinen Umfrage fand ich raus, dass die meisten Albanien irgendwo zwischen Afrika und Afghanistan vermuten. Dabei liegt es mitten in Europa. Nur, dass es niemand kennt. Ein blinder Fleck auf der Landkarte.

Ich habe sie kennen gelernt, die Albaner, und muss sagen, sie sind so einfach nicht zu greifen. Weil nicht so leicht auszumachen ist, wofür sie sich eigentlich wirklich interessieren. Denn vieles an ihnen wirkt widersprüchlich. Was vielleicht auch an ihrer Art liegen mag, wie sie mit Ausländern kommunizieren: nämlich gar nicht. Oder nur sehr wenig. Und das liegt nicht an ihrer Unfreundlichkeit, das sind sie nicht, sondern daran, dass sie sehr zurückhaltend sind. Fast schon schüchtern. Ein weiches Volk, das Direktheiten vermeidet.

Im Gegensatz zu uns Deutschen. Nach meiner ersten Lesung in Tirana sprach mich eine Dame an. Sie sagte: „Also, eigentlich war ich ja ziemlich gegen Sie eingestellt!“
Ich antwortete: „Tatsächlich?! Warum?“
„Nun, das lag an Ihrer Vita.“
„Meiner Vita?“
„Die Sie hier veröffentlicht haben.“
Ich überlegte fieberhaft, was sie damit meinte? Was stand denn in meiner Vita? Gesucht wegen falscher Grammatik, Vielweiberei und betrügerischem Viehhandel? Ich war ein wenig ratlos.
„Na, wo Sie schreiben, dass Sie ... wie war das jetzt? Na, wo Sie schreiben, dass Sie ohne Fleiß studiert haben ...“
„Ach, das meinen Sie!“ antworte ich erleichtert. „Da steht, dass ich mit wenig Fleiß und noch weniger Erfolg studiert habe.“
„Genau!“ sagte sie. „Das meine ich.“
„Und deswegen waren Sie gegen mich eingestellt?“
„Ja, ich fand das richtiggehend provozierend. So was kann man doch nicht schreiben!“
Ich zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“
Sie schüttelt den Kopf: „Das kann man nicht machen!“
„Es entspricht aber der Wahrheit.“
Sie ist empört: „Ja, aber es macht Ihnen doch etwas aus!“
„Nein, eigentlich nicht.“
Und noch ein bisschen empörter: „Natürlich macht Ihnen das was aus! Das spürt man doch!“
„Nein. Wirklich nicht.“
Sie glaubt mir nicht, aber sie schwenkt um und lächelt: „Naja, aber Sie haben dann wirklich schön gelesen.“
„Danke.“
„So mit den verstellten Stimmen. Das war wirklich gut.“
„Danke. Es wäre sicher noch besser gewesen, wenn ich mit Jörg gestern Nacht nicht noch dessen Schnapsbestände ausgetrunken hätte.“

Ich gebe zu, das kann man auch diplomatischer formulieren. Ein Albaner hätte es jedenfalls getan. Mal davon abgesehen, dass er diese Diskussion niemals angefangen hätte. Er hätte wohl überhaupt keine Diskussion angefangen, weil er ohne den sanften Druck der Universität oder des Deutschzentrums, dessen Leiter der oben erwähnte Jörg ist, gar nicht gekommen wäre.

Dabei interessieren sich die jungen Leute sehr für das Ausland. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie auch zu einem Ausländer kommen, wenn der sie mal besucht. Außer bei George, natürlich. Denn der ist ein Freund. Und da sind sie alle gekommen und haben gejubelt.

Und haben gleich mal seine Uhr geklaut. Ach, ich liebe diese Geschichte.

Tirana, Tirana


Da gibt es ein Haus, mitten in Tirana, grau und wuchtig wie ein Turm, das hat keine Klingel und keinen Posteinwurf. Kein Erdgeschoss und keine Adresse. Kleine Fenster und ein massive Eisentür. Es ist bewohnt, aber die Bewohner verlassen dieses Haus nie. Es ist nicht schön, aber es blieb als einziges stehen, als Bürgermeister Edi Rama vor ein paar Jahren die vielen Buden und Häuschen an der Lana, dem kleinen Bächlein, das durch Tirana fließt, abreißen ließ, um Ordnung zu schaffen. Jeder kennt dieses Haus, aber es hat keinen Namen.

Architektur ist so eine Sache in Tirana. Vieles von den traditionellen Bauten ist nicht mehr da, weil es durch ausgesucht hässliche Hochhäuser ersetzt wurde, die vornehmlich der kommunistische Diktator Enver Hoxhas (gesprochen: Hodscha) bauen ließ und damit maßgeblich zu Tiranas Verschandelung beitrug.

Edi Rama hat in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass sich das gebessert hat. Nicht nur, weil er die Favellas an der Lana abreißen ließ – mit Ausnahme des beschrieben Turms – sondern auch, weil er mit einem kleinen Trick große Wirkung erzielte: der ehemalige Künstler Rama ließ die hässlichsten Häuser einfach bunt anmalen.

Ansonsten herrscht so etwas wie Wilder Westen – besser noch: Wilder Südosten – im albanischen Baugewerbe, mit zum Teil skurillen Ergebnissen. Auf der Suche nach Bauland in der begehrten Innenstadt, sind die Bauunternehmen nicht sehr zimperlich. Da wird Bauland gefunden, wo man vorher gar keines vermutet hätte.

Wie zum Beispiel eine Straße. Da ist doch schön viel Platz! Warum also nicht ein Haus draufbauen? Was soll ich sagen: Sie haben es gemacht. Und nicht nur einmal. Ein Hochhaus. Mitten auf einer Durchgangsstrasse. Die jetzt natürlich eine Sackgasse ist. Von beiden Seiten.

Auch Baupläne sind eher so etwas wie vage Absichtserklärungen. Da steht ein Bauamtsleiter schon mal vor einem zehnstöckigen Haus und stiert ungläubig auf den genehmigten Plan, der nur vier Stockwerke ausweist.
Ha, ich kann den Polier geradezu vor mir stehen sehen, wie er sich ein bisschen verlegen am Kopf kratzt und sagt: „Nun, wir waren gerade so gut drauf und hatten auch noch Material über und, äh ...“

Früher war es übrigens üblich, dem Bau ein lebendes Opfer zu bringen. Heute beschränkt man sich auf Teddys. Die werden im Rohbau auf Stahlgitter gespießt und sollen böse Geister abhalten. Wenn Sie mich fragen sieht es eher so aus, als wären die bösen Geister schon da.

Die größte Geschmacksverirrung jedoch steht im Stadtzentrum und geht wieder auf Hoxhas Konto: eine Pyramide. Sie sollte sein Mausoleum werden. Bemisst man den Dachschaden von Diktatoren an ihren baulichen Hinterlassenschaften, so wird hier überdeutlich, mit wem es die Albaner vier Jahrzehnte lang zu tun hatten: einem größenwahnsinnigen Spinner. Paranoid dazu, weil er das kleine Land mit etwa 600.000 Bunkern hat pflastern lassen. An strategisch wichtigen Stellen, versteht sich. Was für Albanien bedeutet: alle paar Meter.

Bleibt noch das graue Haus an der Lana. Das Vendetta-Haus. Denn dort sitzen die zum Tode Verurteilten. Nicht durch den Staat, sondern durch verfeindete Clans. Solange sie in diesem Haus bleiben, dürfen sie weiterleben. Verlassen sie es jedoch ... Lebenslänglich der etwas anderen Art. Das Haus ist Teil von Albaniens Kultur, steht in Tiranas Zentrum vor aller Augen und doch steht es allein da. Isoliert. Wenn man Albaner dazu befragt, zucken sie mit den Schultern: niemand weiß darüber genaues. Und es interessiert sie auch nicht. Dennoch ist es da. Ein zu Stein mutierter Anachronismus.

Ich frage mich, wie es in dem Haus aussieht? Wie viele mögen darin leben? Und wie gehen sie miteinander um, wenn sie dort Tür an Tür wohnen? Vielleicht kommen sie gut miteinander aus. Ein gemeinsames Schicksal schweißt Menschen oft zusammen. Vielleicht werden sie mit den Jahren sogar zu Freunden. Während sich ihre Familiemitglieder draußen weiterhin hassen. Unüberwindbarer Hass.

Und nicht mal Edi Ramas Farbe kann das übertünchen.

Achtung! Küssen.


Zuweilen fragt man sich, aus welchen Gründen die Insassen im Vendetta-Haus ihre Strafe absitzen müssen. Es geht oft um Mord, doch die Gründe, die zu einem führen, sind meist weniger gewichtig und in den Augen eines Westeuropäers ohnehin schwer nachzuvollziehen: Ehrverletzung.

Doch welche Art von Ehrverletzung? Albanien ist ein religiöser Vielvölkerstaat: Muslime, Katholiken, Orthodoxe und eine ganze Reihe von Splittergruppen. Doch in Albanien herrscht gegenüber den Religionen große Toleranz. Jeder kann mit jedem und tut es auch. Die Gläubigen leben friedlich miteinander.

Was hätten wir noch im Angebot bei klassischen Ehrverletzungen? Richtig: Lästerlicher Lebenswandel. Auch schlecht. Albaner gehen grundsätzlich gerne aus. In Tirana herrscht eine Kneipen-, Bar-, und Cafédichte, wie sie vielleicht noch in Köln üblich ist. In jedem Fall aber ihresgleichen sucht. Und obwohl im Land 40 Prozent Arbeitslosigkeit herrscht, investieren die Albaner ihr bisschen Geld für einen Kaffee oder einen Drink an der Bar.

Im krassen Gegensatz zu uns Deutschen, wo Arbeitslosigkeit in aller Regelmäßigkeit zur selbstgewählten Vereinsamung vor dem Fernseher führt. So als ob man ohne Arbeit nicht mehr gesellschaftsfähig wäre. Es wird geraucht und Alkohol getrunken. Gute Gründe, um jemanden einen lästerlichen Lebenswandel anzukreiden. Wird aber nicht gemacht. Denn sonst müssten sie viele, viele Vendetta-Häuser an der Lana bauen.

Gerne genommen: weibliche Unschuld. Vielmehr der Verlust der selbigen. Und sei es auch nur als Schreckenszenario eifersüchtiger Männer. Doch auch hier eher Fehlanzeige. Die albanische Jugend ist sehr attraktiv und zeigt das auch. Die Kleidung vor allem bei Mädchen ist knapp, verdammt knapp möchte ich sagen, hohe Hacken beinahe Pflicht. Die jungen Leute begegnen sich unverkrampft, im gegenseitigen Wohlgefallen.

Aber Konventionen gibt es doch: öffentliche Zärtlichkeiten sieht man nicht. Und es gibt Bars für Verheiratete, in denen es Kuschelräume gibt, wo das Licht schummrig ist und wo man Achtung! küssen kann. Also doch: keusche Unschuld im knappen Top?

Könnte man meinen. Wäre da letzte Woche nicht dieser Unfall gewesen. Es hat den Chef eines privaten Fernsehsenders erwischt. Hat seinen neuen Ferrari spazieren gefahren.

Jetzt ist das sehr bedauerlich, aber noch keine Meldung, die die Albaner hat aufhorchen lassen. Schon eher, dass neben ihm sein Freundin saß. Nackt. Jetzt kennt man das ja mit italienischen Autos: sicher ist die Klimaanlage ausgefallen und in einem engen Auto wie einem Ferrari kann es da schon mal warm werden. Gute Gründe ein bisschen was auszuziehen. Man will ja nicht die teuren Klamotten durchschwitzen.

Kurz darauf müssen dann auch die Bremsen ausgefallen sein. Und so endete die fahrt an einem Baum an der Lana. So sind sie dann gefunden worden, was in Tirana für einen handfesten Skandal gesorgt hat, schließlich war der Mann verheiratet. Aber wenn man den Albanern so in die Gesichter sieht, wenn sie über den Unfall reden, sieht man immer ein Lächeln. Nicht schadenfreudig, eher ein Kichern über eine Nummer, die – ziehen wir das persönliche Drama mal ab – durchaus komisches Potential hat.

Was fährt der Mann auch Ferrari? Selbst die Amerikaner spotten über Fiat, sagen, es wäre die Abkürzung für: Fix it again Toni. Ausgerechnet die Amerikaner. Als ob die Autos bauen könnten.