Mittwoch, 3. November 2010

Eine kleine Nachtmusik


Als Gesine fragte: "Kannst du mich und meine Freundinnen zum Flugplatz fahren?", hätte ich bereits misstrauisch werden müssen. Ein oder zwei Mal im Jahr machten die Damen einen Ausflug. Städtetouren mit Modenschauen und Einkaufsbummel, so etwas in der Art. Nichts also, woran man als normaler Mann unbedingt teilnehmen müsste. Aber zum Flughafen fahren? Das klang nach der Pflicht eines Kavaliers und Ehemannes, der man sich ehrenvoll stellen musste.
Die Damen hatten sich diesmal Salzburg als Ziel erwählt. "Da ist auch Mozarts Geburtshaus", flötete Gesine. "Wusstest du das?" Der Tonfall ihrer Frage erinnerte mich entfernt und unangenehm an verdrängungswürdige Momente meiner Schullaufbahn. Aber natürlich wusste ich das mit Mozart. Was ich allerdings nicht wusste war, was Mozart mit Mode und Einkaufen zu tun hat. Vermutlich handelte es sich um ein Ablenkungsmanöver. Kosten für Partituren würden auf meiner Kreditkartenabrechnung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auftauchen.
Aber zunächst mussten die Damen ihr Flugzeug erreichen, Mozart hin, Mode her. Und es wäre ja alles nicht so schlimm gewesen, wenn es diese verfluchten Billigflieger nicht gäbe. Die Hölle möge sie verschlingen! Die Damen hatten sich nämlich einen zusätzlichen Preisvorteil von sage und schreibe 12 Euro erkauft, und zwar mit einer Abflugzeit von 04.50 Uhr.
04.50 Uhr!
Das klingt nicht nur recht früh, doch immerhin neigt sich die Nacht zu dieser Zeit bereits ihrem Ende entgegen. Nun ist allerdings die Abflugzeit nur der Kopf eines nächteverschlingenden Monsters. Sobald sich dieses Monster aus der Versenkung erhebt, liest man auf seinem Körper in grauenhaft blutroten Lettern, dass man spätestens eine Stunde vor Abflug am Flugplatz zu sein hat. Bei einer Fahrtzeit von einer halben Stunde von der Wohnung zum Terminal bedeutet dies: Abfahrtszeit 03.20 Uhr. Eintreffen der Damen zwischen 02.30 und 03.00 Uhr, denn Pünktlichkeit ist ja bekanntlich die Höflichkeit der Königinnen.
Nun könnte man ja zunächst vermuten, dass das alles nicht so schlimm ist, weil man ja um diese Zeit noch im Halbschlaf vegetiert und sich die allgemeine Reisehektik, verbunden mit laut artikuliertem Meinungsaustausch über die Gefahren der bevorstehenden Teilumrundung des Erdballs, in einigermaßen erträglichen Grenzen hält.
Wie gesagt, das könnte man vermuten. Da kennen Sie aber Gesines Freundinnen schlecht!
Gegen 02.30 Uhr brach eine Woge hochfrequenter Vokallaute über unser stilles Heim herein, und ich begann sofort krampfhaft zu überlegen, was ich zu tun hätte, um die Autofahrt physisch und psychisch einigermaßen unversehrt zu überstehen. Vermutlich lag es an der Uhrzeit, dass es fast zehn Sekunden dauerte, bis mir mein letztes Geburtstagsgeschenk einfiel. Ein Stück Manna, das mir ein mitleidiger Beobachter aus dem Ingenieurshimmel zugeteilt hatte; eine Falle, in die Gesine getappt war, indem sie mich gefragt hatte: "Was wünscht du dir denn eigentlich zum Geburtstag? Es ist immer so schwer, etwas für dich zu finden! Du hast ja schon alles!"
Von wegen!
Aber in diesem Fall hatte ich nicht widersprochen, sondern mir einfach einen Stereokopfhörer gewünscht.
Und zwar einen mit Außengeräuschdämpfung. Entwickelt für Luxuslimousinen. Spezialmikrofone nehmen den Umgebungslärm auf und kontern ihn mit Schallwellen spiegelverkehrter Amplitude. Das Ergebnis: himmlische Ruhe.
Ich nahm also den Kopfhörer mit ins Auto, stöpselte ihn in das Radio und gab vor, so besser den Verkehrsnachrichten lauschen zu können, damit wir auch ja rechtzeitig am Flugplatz einträfen. Eine halbe Stunde lang schwebte mein Gehirn in einem Meer der Ruhe, auch wenn ich im Rückspiegel erkennen konnte, dass sich die Lippen meiner Mitfahrerinnen unablässig bewegten.
Dieser paradiesische Zustand fand sein Ende, als wir am Flughafen eintrafen. Notgedrungen musste ich den Kopfhörer ablegen und im Auto zurücklassen, damit ich den Damen beim Gepäck zur Hand gehen konnte.
In der Abfertigungshalle herrschte ein Betrieb wie in Neu-Delhi zur Rushhour. Offenbar waren auch noch andere Sparfüchse auf die Idee gekommen, Zeit in Geld zu verwandeln. Ein Meer von flugwütigen Stadtentdeckern wogte vor den Schaltern. Als sich Gesine und die Damen schließlich bis zum richtigen Schalter durchgekämpft hatten, wünschte ich viel Spaß und beabsichtigte, das Schlachtfeld zügig zu verlassen. Leider kam ich nicht sehr weit.
"Warte, du musst uns helfen!" Gesine war mir hinterhergelaufen und hielt mich am Oberarm fest.
Warum bloß hatte ich den Kopfhörer im Auto gelassen?
"Edeltraud hat Übergewicht!", rief Gesine.
Das war mir zwar auch schon aufgefallen, aber wieso kamen sie mit diesem Problem ausgerechnet zu mir?
"Ihr Koffer ist zu schwer!", fügte Gesine hinzu.
Ach so, der Koffer also auch.
"Und jetzt muss sie Gebühr dafür zahlen", berichtete Gesine weiter.
"Na, dann soll sie das doch tun", schlug ich naiv vor.
Gesine blickte mich vorwurfsvoll an. "Darauf sind wir auch schon gekommen. Aber sie hat zu wenig Bargeld dabei."
Das interessierte mich jetzt zumindest technisch. "Zu wenig Bargeld? Äh, wieviel wiegt denn der Koffer?"
"27 Kilo", sagte Gesine stolz.
27 Kilo? Für drei Tage Salzburg? Und wie hatte Edeltraud Lyskirchen dieses Monster vom Auto bis zum Schalter tragen können? Machte die heimlich Bodybuilding? Die Hochachtung vor dieser sportlichen Leistung wuchs fast ebenso schnell wie die Sehnsucht nach dem Kopfhörer.
"Dann leiht Ihr doch das Geld", sagte ich vorsichtig.
Gesine stemmte die Fäuste in die Hüften. "Du hältst dich wohl für sehr klug? Wir haben auch nicht genug. Else hätte zwar, aber ihre Geldbörse ist im Koffer, und der ist schon eingecheckt."
Ah, endlich war es heraus! Sie wollten an mein Geld. Das würde eine herbe Enttäuschung geben. "Ich habe auch keins, nur meine Brieftasche. Schließlich will ich ja nur zurück ins Bett."
Gesine sah mich an, wie es die Fernsehkommissare tun, wenn sie eine Schwachstelle im Alibi eines Serienmörders gefunden hatten. "In deiner Brieftasche ist aber auch deine EC-Karte", sagte sie triumphierend.
O je. Entrinnen war nicht möglich. Sie hatten mich. Also auf zum nächsten Geldautomaten. Allerdings täuscht hier das Wort "nächsten". Ich war rund 10 Minuten in leichtem Trab unterwegs, bis ich einen fand. Glücklicherweise war er nicht defekt.
Als ich einige Minuten später in die Abfertigungshalle zurückkehrte, fand ich sie verblüffend leer vor. Wo eine gute Viertelstunde zuvor noch das schiere Chaos regiert hatte, herrschte nun beunruhigende Stille. Verwunderlich irgendwie, zumal weder Gesine und ihre Damen zu sehen waren noch Edeltraud Lyskirchens Monsterkoffer. Und der zumindest hätte da ja noch stehen müssen.
Es dauerte keine drei Minuten, bis ich nach einigen kurzen Gesprächen mit Ortskundigen den Fehler gefunden hatte: Ich befand mich in Flügel C. Lufthansa und so weiter. Gesine und die apokalyptischen Heerscharen waren in Flügel A. Der Geldautomat in Flügel B. Falsche Richtung. Kann um die Uhrzeit passieren. Also kehrt, Marsch!
Unglücklicherweise sah es im Flügel A inzwischen auch so ähnlich aus wie in Flügel C. Wo waren all die Menschen? Immerhin gab es einen wichtigen Unterschied: Edeltraud Lyskirchen und ihr Koffer waren noch da. Die Dame blickte mir regungslos entgegen, wobei mir eine steile Falte zwischen ihren Augenbrauen auffiel.
"Ah, Frau Lyskirchen! Wo sind denn die anderen Damen?"
Was so freundlich und interessiert gemeint war, trug rückblickend leichte Züge von Ironie.
Frau Lyskirchen deutete nämlich streng mit dem Daumen in Richtung Flugsteig. "Die sitzen inzwischen im Flugzeug nach Salzburg", sagte sie gefährlich leise.
Mir schwante Fürchterliches. "Was denn, ohne Sie?"
Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände, aber sie kleidete ihn auch noch in Worte: "Leider waren Sie ja nicht früh genug zurück mit dem Geld!"
Krampfhaft versuchte ich mir über die Konsequenzen klar zu werden, schaffte es aber nicht ganz. "Und jetzt?", fragte ich deshalb ratlos.
Sie sah mich durchdringend an. "Nun, Ihre Frau hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Da Sie es verbockt hätten, würden Sie es auch wieder gutmachen und mich mit dem Auto nach Salzburg bringen."
Meine mentale Paralyse löste sich erst, als ich versuchte, ihren Koffer irgendwie zu bewegen. Und als ich dann endlich völlig ausgepumpt hinter dem Steuer saß, konnte ich wenigstens noch zwei winzige Teilerfolge feiern. Zunächst gelang es mir, Edeltraud Lyskirchen davon zu überzeugen, dass man im Fond sicherer aufgehoben ist als auf dem Beifahrersitz, zumal auf solch einer langen Fahrt, und dann musste sie noch einsehen, dass Verkehrshinweise mit Kopfhörer einfach verlässlicher abzuhören sind.

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(c)2010 Julius Moll.

Samstag, 1. Mai 2010

Offener Brief


Sehr geehrter Herr Landrat,

bitte erlauben Sie mir, mit diesem Schreiben den vorbildlichen Einsatz Ihrer Mitarbeiter loben: Wirklich erste Klasse!

Als ich am Vormittag des Karfreitags durch Kalsbach raste, auf dieser gefährlichen, weil gut ausgebauten Strecke, die geradezu einlädt, das Maß für Geschwindigkeit zu verlieren, und dabei von Ihrem Mitarbeiter durch ein grelles, rotes Licht in die Realität zurückgeblitzt wurde, war mein erster Gedanke: Verdammter Mist, das gibt’s doch nicht! Dann aber ging es mir auf: Welch ein selbstloser Einsatz! Am Feiertag! Großartig! Anstatt den Tag mit Frau und Kindern zu Hause zu verbringen, fährt dieser wackere junge Mann frühmorgens mutterseelenallein hinaus und tut zwei gute Dinge gleichzeitig: Er schützt die Bürger vor potentiellen Mördern und saniert den Haushalt des Landkreises. Chapeau!

Auch die Denker und Lenker dahinter sind zu loben. Menschen mit Übersicht und Augenmaß, von denen es leider zu wenige gibt. Hier aber gibt es sie, und sie tun ihre Pflicht. Sie sorgen dafür, dass wir alle ein warmes Gefühl von Sicherheit verspüren dürfen, und erinnern uns daran, dass wir nicht allein sind.

Während ich so weiter fuhr und nachdachte, kamen mir viele Ideen zu diesem Thema. Und die möchte ich nicht für mich behalten. Nein, ich möchte helfen, möchte mich fürs Gemeinwohl einbringen. Und so erlauben Sie mir bitte, Ihnen wenigstens einen dieser Gedanken mitzuteilen.

Die Idee der Geschwindigkeitskontrolle als Profitcenter ist ja nicht ganz neu, aber bewährt. Man sollte sie auch unbedingt beibehalten. Nur die Ausführung war in diesem Fall suboptimal. Die Straße durch Kalsbach fühlt sich durch ihre Breite, ihren Belag, ihren ganzen Ausbau wie eine Strecke an, auf der man locker siebzig fahren könnte, die aber auf fünfzig begrenzt ist. Als geschlossene Ortschaft kann man die Straße auch nicht wirklich bezeichnen. Gefühlt, meine ich. Sie, Herr Landrat, können ja, und haben auch. An vielen, ungezählten anderen Stellen – auch in unserem Kreis – sind vergleichbare Ortsdurchfahrten auf siebzig Stundenkilometer begrenzt. Und hier möchte ich ansetzen. Deklarieren Sie die Kalsbach-Durchfahrt doch bitte als Dreißigerzone! Das wäre doch viel ergiebiger!

Eigentlich liegt es doch auf der Hand: Ich zum Beispiel preschte an jenem Karfreitag mit 56 km/h durch Kalsbach, direkt vor mir fuhr dieser Golf mit den zwei Damen und den beiden Hunden, ebenfalls im Geschwindigkeitsrausch. Dafür sind auch sie geblitzt worden. Aber, und jetzt folgt die Pointe: Sechs Stundenkilometer zu viel bringen doch gerade mal 15 Euro in die Kasse!

Zudem war auch das Verkehrsaufkommen denkbar gering! Und dennoch opferte Ihr junger Mitarbeiter seine Zeit. Vermutlich mit Feiertagszuschlag. Ja, lohnt sich das denn? Wenn das eine Dreißigerzone wäre, hätte sich der ganze Aufwand doch viel besser gerechnet! Da wären doch mindestens 80 Euro zusammengekommen. Pro Auto! Und dreißig zu fahren macht an dieser Stelle genauso viel – respektive wenig – Sinn wie fünfzig. Aber fürs Gemeinwohl wäre es doch viel nützlicher.

Ehrlich gesagt, habe ich mir auch schon zarte Vorwürfe gemacht, dass ich so zögerlich gefahren bin. Ein bisschen mehr Engagement hätte wohl dabei sein dürfen. Da sollte ich vielleicht mal meinen Egoismus hinterfragen. Jedenfalls habe ich mich nach intensivem Nachdenken dazu entschlossen, Ihnen statt der geforderten 15 Euro freiwillig 17 Euro zu überweisen. Verstehen Sie die zusätzlichen 2 Euro bitte als pekuniäres Schulterklopfen, verbunden mit der Aufforderung: Weiter so!

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Paul Schmitz


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©2010 Paul Schmitz

Montag, 5. April 2010

Wie man in der Fremde Schuhe kauft.

Man kennt das: Irgendwer hat immer ein Paar Schuhe weniger als gewünscht. Dann heißt es, ein Schuhgeschäft zu finden. Richtig interessant wird es, wenn gewisse Bedingungen an die fehlende Fußbekleidung gestellt werden, beispielsweise: Die Farbe ist egal – Hauptsache, sie sind rot. Was ganze Lebensgemeinschaften zerrütten kann, ist aber gleichzeitig auch eine Chance und Herausforderung. Wie gut, dass es Leute wie die Schuhsucher gibt, die vorführen, wie man derartige Probleme mit angemessener Würde löst, auch im befreundeten Ausland.



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Ein Film von Fedor von Hengstenberg
©2010 FvH/Smartists

Montag, 15. März 2010

Mörderisches Vergnügen 2010

Na, das war ja wieder ein schöner Abend dieses Jahr. Da freuen wir uns mal auf das nächste "Mörderische Vergnügen" im März 2011 – dann bereits zum zehnten Mal.



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Ein Film von Fedor von Hengstenberg
©2010 FvH/Smartists