Montag, 30. Juli 2007

Das Zufallsreisebüro


Als Harnfried den Vorschlag erstmals machte, war ich misstrauisch. Ein Zufallsreisebüro zu gründen war nichts, worüber ich vorher intensiv und lange nachgedacht hätte. Wieso auch? Wenn ich verreise, weiß ich eigentlich gerne, wohin. Aber auf den zweiten Blick gewann die Idee an Attraktivität. In einer Zeit, in der die Menschen gelangweilt vom Überfluss nach immer neuer und abenteuerlicher Kurzweil suchen, muss man auch mal unkonventionelle Geschäftsideen vorurteilsfrei prüfen.

„Und wie soll das genau funktionieren?“
„Ganz einfach: Wer eine Zufallsreise buchen will, sagt, wann und wie lange er verreisen will, und bezahlt. Art und Ziel der Reise wird dann mit einem Zufallsgenerator aus dem Gesamtangebot aller Reiseanbieter ausgesucht. Frei nach dem Motto: Wir buchen, Sie fluchen!“
Das hörte sich noch irritierender an, als ich zunächst gedacht hatte, und es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich seinem Drängeln nachgab. Hätte ich es besser nicht getan. Knapp drei Monate später hatten wir schon einen Sack voll Klagen am Hals.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Im Prinzip ist die Idee toll. Aber wir haben ein paar Anfängerfehler gemacht, die sich schnell rächen sollten. Da war zunächst das Rentnerehepaar, das von den jahrelangen, nein, jahrzehntelangen Urlauben in der holsteinischen Schweiz – Wassertreten in Malente, Pferdestallbesuche in Gremsmühlen und so weiter – genug hatte und auf die alten Tage noch mal in die Ferne schweifen wollte. Eine zweiwöchige Canyoning-Tour durch die Wasserfälle im Zentralkaukasus jedoch ging über ihre Kräfte und reaktivierte einen längst vergessenen Bandscheibenvorfall, hinter dem sich sogar der beidseitige Kreuzbandriss der Ehefrau verstecken konnte. Dass sie uns das Fehlen einer flächendeckenden medizinischen Versorgung anlasten wollten, nun ja, das spricht für sich selbst. Im Zentralkaukasus! Da gibt es überhaupt keine Häuser, um eine Arztpraxis unterzubringen, geschweige denn irgendwelche Straßen, über die der Arzt vom nichtexistenten Haus zu den Patienten gelangen könnte.

Im Falle des unter Asthma leidenden Mittvierzigers, der auf Rat seiner Schwiegermutter zunächst einen Aufenthalt in der Klutert-Höhle in Ennepetal buchen wollte, sind die Dinge dann zugegebenermaßen ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Harnfried hatte sich alle Mühe gegeben, den Mann von der Idee des Zufallsreisens zu überzeugen, und im Grunde genommen offene Türen eingerannt. Vermutlich hatte der Ärmste genug von den Ratschlägen seiner Schwiegermutter. Und dann erwischte er diese wunderbare Zehntagesreise mit einer der herrlichsten Eisenbahnen der Welt – von Arica nach La Paz. Immer die Anden hinauf, bis auf fast 5000 Meter Höhe. Die Fahrt über die salzbedeckte Hochebene gehört zum Eindrucksvollsten, was man sich als Reisender erträumen kann – vorausgesetzt, man leidet nicht unter Asthma. Wenn die Waggons wenigstens Fenster gehabt hätten. Dann wäre dem Mann der scharfe, salzgesättigte, trockene Wind erspart geblieben, den die Einheimischen „La Lija de Dios“ nennen, das „Sandpapier Gottes“.

Sie werden fragen, warum wir nicht wenigstens dafür gesorgt haben, dass während des sechsstündigen Aufenthalts an der Station La Desesperación, malerisch mitten auf der Hochebene gelegen, ein Medikopter den Atemwegsgepeinigten aus der Höhe und den Klauen von La Lija de Dios errettet. Nun, das hat etwas mit Physik zu tun. In diesen Höhen tragen Hubschrauber nur mehr bedingt. Krankenwagen könnten zwar theoretisch fahren, aber ich bitte Sie! Woher hätte ein solcher herbeikommen sollen? Aus Santiago de Chile etwa? Die Situation war eben einfach verfahren.

Apropos verfahren: Das ist ja ein Aspekt, den man nicht verkennen sollte. Verfahren kann man sich ja nur, wenn man weiß, wohin man eigentlich will. Bei Zufallsreisen ist das nun eben nicht der Fall. Und da kann man gegen das Prinzip sagen, was man will, eines steht fest: Verfahren in diesem Sinne kann man sich auf einer Zufallsreise nicht. Man spart sich daher alle guten Ratschläge der Beifahrer/innen, was ja allein schon einen gewissen Urlaubseffekt bewirken kann.

Und damit Sie nicht denken, jede gebuchte Reise sei ein Reinfall gewesen, möchte ich noch dies erwähnen: Einem Oberstudienrat und seiner Frau war ein einwöchiger Bildungsurlaub zugelost worden. Es handelte sich um ein wirklich schönes Paket von El-Nino-Reisen: „Überflüssige Klischees: Tauchen zwischen Piranhas“, ein Reisetipp der Volkshochschule Tuttlingen. Übernachtung in einem verlassenen Kopfjägerdorf in stilechten Pfahlbauten direkt im Sumpfgebiet; alle Visa und Impfungen inklusive. Der Oberstudienrat kehrte glücklich und zufrieden zurück – und zwar alleine. Das Klischee hatte nicht getrogen. Vermutlich rein zufällig.

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©2007 Julius Moll

Sonntag, 29. Juli 2007

Astralreisen


Nachdem im Februar ja die Waschmaschine kaputtgegangen war und im April ein Rabauke den Außenspiegel des VW-Golf abgefahren hatte, war sonnenklar: Der Sommerurlaub im Allgäu stand gehörig auf der Kippe. Ohne Waschmaschine ist das Leben quasi wertlos, und Inge musste schließlich einsehen, dass die allgemeine Verkehrssicherheit ohne Außenspiegel nicht zu gewährleisten war. Die Rettung zeichnete sich aber völlig überraschend in der vorletzten Woche ab, als ich nach einem Bier und ein oder zwei Korn versehentlich in die Buchhandlung abbog (die haben da die gleiche Haustür wie ich zu Hause).

Mehr aus Mitleid kaufte ich irgendwas preiswert Aussehendes aus einem zufällig auftauchenden Grabbelkorb und verschwand schleunigst; glücklicherweise, ohne peinliche Fragen beantworten zu müssen. Erst am Samstag fiel mir mein Kauf wieder in die Hände. Ich konnte den Rasen bei nasskalter Witterung unmöglich mähen, und das Schlafzimmer war wegen Staubsaugens gesperrt. Ich blätterte in dem Buch über Astralreisen, bis mir plötzlich die Schuppen von den Augen und das Buch aus den Händen fiel: Astralreisen kosten nichts, lassen sich beliebig oft und an jedem Wochentag durchführen, und das Wetter spielt eigentlich keine Rolle. Lastminute, sozusagen, gab es für Inge eine Kurzeinweisung und für mich einen Klaren als Belohnung.

Vielleicht war ein Astralstreik daran schuld, dass die Reise dann nicht so richtig beginnen konnte. Inge hatte keine Lust, länger auf den transzendenten Zustand zu warten, weil ihre Ärzteserie im Fernsehen kam, und ich hatte einige grundsätzliche Schwierigkeiten beim Start. Mit Klaus und Manfred arbeitete ich abends in der Eckkneipe nochmals die Gebrauchsanweisung durch. Die beiden sind praktisch Profis. Klaus fährt sogar einen Astra. Und genau wie in dem Buch beschrieben, konnte ich meinen ersten Zielort nicht erkennen, ganz genau genommen konnte ich mich auch nicht an alle Details erinnern. Aber es war warm und es wurde laut gesungen, soviel steht fest. Wahrscheinlich Ibiza, Kuba oder so was in der Art. Das Lied ging mir jedenfalls den ganzen nächsten Tag im Kopf herum.

Insgesamt war dieser Urlaub eine gelungene Sache. Inge blieb zu Hause (obwohl es ja rein kostenmäßig völlig egal gewesen wäre), und ich verbrachte neun Tage meiner zwei Wochen Urlaub an den merkwürdigsten Plätzen. Rein gewohnheitsmäßig startete ich immer in der Eckkneipe. Jetzt, wo ich wieder arbeiten muss, vermisse ich die Astralreisen richtig. Aber nächsten Sommer ...

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©Harnfried Schoßmüller-Knappentropf

Donnerstag, 12. Juli 2007

Im Zeichen der Gehörnsäge


Dreizehntausend ist eine durchaus imponierende Zahl. Man versuche sich vorzustellen: 13.000 Paar Schuhe im Schrank, 13.000 Pickel im Gesicht, 13.000 Mücken im Schlafzimmer – im Grunde genommen recht überwältigend. Bei 13.000 Sandkörnern oder 13.000 Euro relativiert sich das Ganze ein wenig, wenn man eine Sandburg oder ein Haus bauen will. Bei 13.000 Menschen kommt man schon wieder ins Grübeln. So viele gehen aber immerhin in die Fankurve eines anständigen Fußballstadions.
Warum ich mich auf die 13.000 kapriziere? Nun, die Hauptstadt von Süd-Dakota heißt Pierre und hat diese Zahl an Einwohnern. Eine einzige Fankurve als Hauptstadt – welch deprimierende Vorstellung! Das kann aber unmöglich der einzige Grund sein, warum Pierre vor einigen Jahren als „Suicide City“ betitelt wurde: Die Selbstmordrate hatte bedrohliche Werte erreicht. Sucht man nach Gründen, wird man schnell fündig und kann sich kaum entscheiden, welcher der gewichtigste sein könnte.
Zwei Kandidaten stehen sicher in der engen Wahl. Zunächst einmal gibt es in Pierre ein State Capitol; es sieht aus wie das Capitol in Washington, ist aber dreizehntausendmal kleiner. Dort spielten sich schon früher deprimierende Dinge ab. Zunächst verlor Deutsch bei der Abstimmung über die Amtssprache mit einer Stimme gegen Amerikanisch, aber das mag man im vernetzten elektronischen Zeitalter ja gerne verschmerzen. Weitaus deprimierender ist ein großer Vitrinenschrank im ersten Zwischengeschoss. Dort sind Miniaturroben ausgestellt. Es handelt sich um die handgefertigen Kleinreplikas der Abendkleider, die die Frauen der jeweiligen frischgewählten Gouverneure bei der Amtseinführung ihrer Gatten trugen. Vermutlich waren alle Einwohner Pierres an der Herstellung dieser Kleinode beteiligt, manche sicher zwangsweise. Ich denke da an den männlichen Teil der Bevölkerung, der sonst am nahe gelegenen Lake Oahe im Sommer mit Fischen und im Winter mit Eisfischen reichlich zu tun hat.
Gleich in der Nähe von Pierre liegt die imaginäre Linie, die die Central Time Zone von der Mountain Time Zone trennt. Wenn man da auf der falschen Seite des Sees fischt, ist man ruckzuck eine Stunde später daheim, wenn man nicht aufpasst. In der Zeit hätte schon eine weitere Rüsche eines Mini-Abendkleides fertig sein können.
Zieht man die einzig vernünftige Konsequenz und verlässt Pierre mit dem Auto Richtung Norden, so beginnt man nach 50, 60 Kilometern die 13.000 Zurückgelassenen zu vermissen, denn die einzigen Lebewesen, die man hin und wieder zu Gesicht bekommt, sind braun und tragen Gehörn. Der erste Ort nach längerer Autofahrt heißt Onaida, und genau so sieht es dort auch aus. Zur Ermittlung der Einwohnerzahl muss man 13.000 durch 100 teilen, wenn Sie wissen, was ich meine.
Einsame Kilometer weiter taucht wieder ein Schild aus dem Bodennebel auf: Agar, Population: 82. Die sind wenigstens ehrlich. Wie oft sie die Einwohnerzahl korrigieren, weiß man nicht. Aber sie kann unmöglich ständig bei 82 liegen. Ich habe dennoch angehalten – und wenn ich erkläre, warum, wird man vermuten, dass ich zu lange in der Gegend geblieben bin, um ohne geistige Beeinträchtigung heimkehren zu können.
Vielleicht sollte ich zur Erhöhung der Pointe zunächst darauf hinweisen, dass es Winter war in Süd-Dakota. Das ist noch deprimierender, als man zunächst glauben mag. Dadurch wird aber erklärlicher, dass ich an eine Art von Einsamkeitshalluzination glaubte, als hinter einer Schneeböschung ein Straußenkopf auftauchte und mich neugierig beäugte. Da hätten Sie auch angehalten und wären die paar Schritte die Böschung hochgeklettert, geben Sie's ruhig zu! Ich kannte zwar die Regel „Wo man zehn Mäuse sieht, sind noch hundert andere“, aber die Regel „Wo dich ein Strauß anblickt, sind noch tausend andere“ kannte ich bis dato nicht.
Mitten im Winter! Die armen Vögel. Als sie mich bemerkten, kamen sie alle – ich wiederhole: alle! – auf mich zugerannt; und ich vermute, Sie ahnen, was das bei Straußen heißt. Verdenken konnte ich es ihnen nicht: Vermutlich war ich außer ihrem Herrchen der erste Mensch, den sie seit Jahren zu Gesicht bekamen.
Wegen des lauten Straußengalopps tauchte auch bald der besorgte Straußenbesitzer auf, der natürlich eine Flinte in Händen hielt. Da ich keinen Laufkorken bei mir trug, um ihn vorne hineinzustecken, damit sich der Schuss nach hinten löse, wurde mir durchaus mulmig. Glücklicherweise stellte sich früh genug heraus, dass der besorgte Vogelhändler deutsche Vorfahren hatte und daher keine direkte Veranlassung mehr sah, einen – ja, wie nennt man das in diesem Falle: Stieflandsmann? Schwiegerlandsmann? Na, ich weiß nicht! – Menschen zu treffen, der so sprechen konnte wie sein Vater (der Herr habe ihn selig).
Bei einer heißen Ovomaltine erzählte er mir, dass er außer Straußenzüchter auch noch Jäger sei. Da gebe es genug Arbeit in dieser Gegend. Sein Waffenschrank hatte die Ausmaße einer Kölner Eigentumswohnung. Auf dem Couchtisch lag ein Katalog für Jägerbedarf, in deutscher Sprache von einem deutschen Händler. Arthur, so hieß der Oberstrauß, dachte gerade über die Anschaffung eines Wildkühlschranks nach. Zunächst verstand ich das Wort nicht auf Anhieb und hätte schwören können, dass er „Wildkühlschrank“ gesagt hatte. Wie sich herausstellte, hatte ich ihn richtig verstanden. Begeistert zeigte er mir den Artikel im Katalog. Tatsächlich, ein Wildkühlschrank!
„Elektrolux Umluft-Wildkühlschrank – Zur schnellen Abkühlung von zwei Stück Rehwild oder einem Stück Schwarzwild (bis ca. 65 kg) nach den Vorschriften der Fleischhygieneverordnung. Temperaturbereich von 1° bis 12°C. Bruttoinhalt 368 Liter. Wechselbarer Türanschlag. Abschließbar. Mit Laufrollen und verstellbaren Füßen. Innenbeleuchtet. Wildgehänge mit zwei Schiebehaken und 4 Regalböden. FCKW-frei. Außenmaße 59,5x59,5x185 cm, Innenmaße 52,5x48,0x160 cm (BxTxH). € 1070,–“
Die Angabe „mit Laufrollen“ fand ich besonders interessant. Bis dahin hatte ich ja gedacht, der ordentliche Waidmann habe das Gerät bei sich zu Hause im Keller stehen. Nun begann ich jedoch in Erwägung zu ziehen, dass man die Kiste während der Jagd hinter sich her ziehen könnte, um das Wild vor Ort zu kühlen. Allerdings gab es im gesamten Katalog keine einzige olivgrüne Wildkühlschrank-Tarnabdeckung, denn wenn man mit diesem riesigen weißen Ding im Wald auftaucht, lachen sich die Rehe ja einen Wolf! Meinen weiteren Einwand, dass man bei –15 Grad keinen Kühlschrank bräuchte, entkräftete Arthur mühelos: „Im letzten Sommer hatten wir fast 45 Grad im Schatten.“ Dann allerdings …
Nun hatte der Katalog noch mehr zu bieten; Dinge, an die ich vorher ehrlich gestanden noch nie gedacht hatte: „Gehörnsäge mit Abschlagevorrichtung und Rundstab-Sägeblattführung. Kein Verhaken und Verkanten der Säge. Das Sägeblatt bleibt dadurch länger scharf! Gleichmäßiger, glatter Schnitt, der nicht mehr nachbehandelt werden muss. Die Trophäe passt genau aufs Schild! Einstellmarkierung – dadurch exakte Einstellung des Schnittwinkels. Verzinkte Ausführung. € 39,95“ Und dazu noch den ergänzenden Artikel „Ersatzsägeblatt mit Griff, € 8,50“, der mich an den berühmten Katalogeintrag einer Antiquitätenauktion erinnerte: „Antikes Messer ohne Griff, dem die Klinge fehlt.“
Zugegebenermaßen war mir vorher auch nicht recht klar gewesen, dass man Wildteile nach dem Ermorden nicht einfach zu Trophäen zurechtsägen sollte, weil dann das anhaftende Restgewebe zu verwesen beginnt. Nein, nein! Doch die Lösung ist ja so einfach: „Abkoch-Vorrichtung für Trophäen – Zum sauberen, bequemen Abkochen von Reh-Gehörnen, Gamskrucken usw. Einfaches Anbringen durch gummiarmierte Halterung und Flügelschrauben. Stufenlose Verstellmöglichkeit in 4 Richtungen. Korrosionsgeschützt, die Armierung besteht aus wasser-, hitze- und fettbeständigem Spezialgummi. € 29,95“ Darauf muss man erst mal kommen! Die Trophäenpräparation geht so zweifellos sehr leicht von der Hand.
Ich bin dann nach Norden weitergefahren.
Da kommt man dann – Sie werden es ahnen – nach Nord-Dakota. Und wenn Sie wissen wollen, warum das die Gesamtsituation nicht verbessert, sehen Sie sich den Film „Fargo“ an. Ich versuche derweil mal herauszufinden, ob es auch fahrbare Bierkühlschränke gibt.
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©2007 Julius Moll
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Sonntag, 1. Juli 2007

Therapeutische Anschläge


Ja, muss man denn wirklich immer in die Ferne schweifen, um stimulierende Eindrücke zu sammeln? Nein, muss man natürlich nicht. Man kann, aber man muss nicht. Zudem ist "Ferne" ebenso relativ wie alles andere in diesem Universum. Geht man beispielsweise zu Fuß von Köln nach Bonn, ist es recht fern. Fährt man dagegen mit dem Auto von Köln in Richtung Süden, hat man Mühe zu merken, dass da überhaupt eine Stadt ist.
Aber ich schweife ab. Der oberbergische Kreis ist nicht wirklich weit entfernt von Köln. Dort gibt es einen Flecken namens Rebbelroth, gelegen zwischen Derschlag und Dieringhausen. Zugegeben: Man muss diese Orte nicht kennen; zusammen sind sie etwa halb so groß wie der Friedhof von Chicago. Aber dann läuft man eben Gefahr, wirklich wichtige Erkenntnisse zu verpassen.
In Rebbelroth findet sich nämlich neben der Ausfahrt des örtlichen Supermarktes etwas fundamental Beeindruckendes: eine "Anschlagsäule für Jedermann". Als ich die Säule erstmals sah, war ich mir sofort der glücklichen Fügung bewusst: Die Säule war unversehrt, und das bedeutete, dass in letzter Zeit niemand einen Anschlag verübt hatte.
Die tiefe philosophische Einsicht dieses nachahmenswerten Plans der örtlichen Verwaltung lässt einen in stille Andacht verfallen. Aggressionsableitung als Prophylaxe, um Schlimmeres zu verhindern: allein als Idee lobenswert, hier aber zudem noch brillant umgesetzt. Wem schwillt nicht hin und wieder der Kamm? Praxisgebühren, Benzinpreis, Irakkrieg, Umweltverschmutzung, Flughafengebühren, Ozonloch, Kapitalismus, Kommunismus, Raucher, Nichtraucher, Atomkraftwerke, Windräder, Kölner, Düsseldorfer, Moscheen, Sonntagmorgenglockengeläut – es gibt immer etwas, was einen auf die Palme bringen kann. Warum dann gleich in den Extremismus abgleiten? Da reicht es doch völlig aus, wenn man die nächste Anschlagsäule in die Luft jagt. Niemand wird verletzt, und die Dinger können umgehend und preiswert ersetzt werden, damit sie dem nächsten unzufriedenen Mitbürger zur Verfügung stehen.
Natürlich wäre Anleitung von Nöten. Dabei könnten auch Varianten dieses Modells vermittelt werden. Volkshochschulen könnten Praxisseminare für stark Unzufriedene anbieten, in denen alte Autos mit Nagelbomben vollgepackt werden – ohne Zünder, versteht sich –, um diese dann in irgendeiner Innenstadt abzustellen. Da wäre dann zumindest der seelische Druck weg, dass man nichts getan hätte, um sich zu artikulieren, aber niemand käme zu Schaden.
Und warum ins Auto oder Flugzeug stürzen, wenn man denkt, man sei komplett urlaubsreif? Wenn in jeder größeren Ortschaft eine Art Sandkasten mit Strandkorb und einer Tasse Sangria bereitstünde, würde das die Touristenscharen deutlich dezimieren helfen. Niemand mehr müsste gleich den erstbesten freien Tag opfern, um nach Mallorca zu jetten.
Während ich diese tief schürfenden Gedanken in die Tastatur tippe, schimpft drei Meter hinter mir auf einem Zweig Frau Rotkehlchen. Den Ton kenne ich. Den schlägt sie immer an, wenn ihr Gatte nicht genug Futter heranschaffen hilft. Und ihn habe ich in der letzten Stunde weder gesehen noch gehört. Vermutlich hängt er mit Herrn Meise an irgendeinem Rinnsal herum und pfeift irgendwelchen Bachstelzen nach, dieser Tunichtgut. Die Schimpfkanonade seiner Gattin wird intensiver. Vermutlich hätte auch sie gerade eine Verwendung für eine Anschlagsäule.
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©2007 Julius Moll
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