Von Prellböcken und tanzenden Rentnern
Mitunter liest und hört man ja Erstaunliches über diverse Verkehrsmittel. Dabei will ich Flugreisen mal ausnehmen, obwohl auch dabei für den Laien dies und das unklar bleibt. Einem Außenstehenden ist ja nicht so ohne weiteres klar, wieso man auf dem Flug von Köln nach München beispielsweise vom Kapitän erfährt, dass man die Reiseflughöhe von 9000 Metern erreicht habe, aber gleich wieder mit dem Sink- und Landeanflug begönne. 9000 Meter! Warum so hoch, fragt sich der Uneingeweihte unwillkürlich. Wäre es nicht viel weniger riskant, wenn man nur in 10 Metern Höhe flöge? Nur für den Fall, dass mit dem Flugzeug irgendetwas nicht stimmt?
Profis beantworten diese Vorbehalte mit dem lässigen Hinweis, dass man auf 9000 Metern Höhe eben genau in diesem Fall viel länger Zeit hätte, um auf den Fehler zu reagieren, was bei 10 Metern kaum möglich wäre. Insgesamt muss man vermutlich mit der Weisheit leben, dass man sich für jeden Flug einen Sitz ganz vorne reservieren sollte, weil man dort sicher ist, dass im Rahmen eines Absturzes der Getränkewagen noch mal vorbei rollt.
Bei Bahn, Bus und Auto stellt sich das Problem der Reisehöhe ja nicht, zumindest nicht im Normalbetrieb. Wer eine Landstraße mit einem Kleinwagen und 120 Stundenkilometern befährt und an der erstbesten Kurve von den Pneus geholt wird, kann sich natürlich auf einer sehr schönen Flugbahn in ein Weizenfeld katapultieren lassen. Aber davon, wie gesagt, soll hier nicht die Rede sein. Normalerweise ist bei Bus, Bahn und Auto die systemimmanente Reisehöhe gleich Null.
Aber auch dann kann es zu schweren Unfällen kommen. Ohnehin ist ja – auf die Personenkilometer berechnet – die Flugreise noch die sicherste Art zu reisen. Aber was nutzt einem die beste Statistik, wenn man an Bord einer Unglücksmaschine sitzt? Bei Busreisen gilt Ähnliches. Vor Kurzem haben das einige Rentner erfahren müssen, deren Reisebus ausbrannte. Leider gab es Tote und und Verletzte. Der Nachrichtensprecher im Radio erklärte dazu noch, dass sich viele dieser Rentner ohnehin nur mit Gehhilfen bewegen konnten und daher recht hilflos waren, als das Unglück über sie hereinbrach. Doch selbst bei einem solch dramatischen Zwischenfall, den man sich mit ausreichender Hollywoodfilmerfahrung quasi bildlich vorstellen kann, irritieren manche Details. Beispielsweise, wenn der Radiosprecher in einem Nebensatz sagt, dass sich die bekrückten Rentner auf der Rückfahrt von einer Tanzveranstaltung (!) befunden hätten.
Nun ja, man kann nicht immer leicht hinter die Kulissen blicken. Auch nicht bei der Sicherheitsplanung der Bahn. Selbst wenn wir die leidigen Bruchachsen der ICE-Züge mal außer Acht lassen, erfährt man hin und wieder Erstaunliches. Da rollt beispielsweise ein Güterzug mit Kohle durchs Land und lässt sich plötzlich nicht mehr bremsen. Die Situation verschärft sich, als die Strecke auch noch abschüssig wird und der Zug beschleunigt. Die Nachrichten melden, dass der Zug erst von einem Fabrikgebäude gestoppt wurde, und zwar an einer der inneren Brandmauern.
Wie geht es den Zugführern?, sorgt man sich umgehend. Nun, es geht ihnen gut. Sie sind vorher abgesprungen – ein Verhalten übrigens, dass man sich in der christlichen Seefahrt überhaupt nicht vorstellen könnte. Warum sind sie abgesprungen? Dies erklärt ein Sicherheitsexperte der Bahn im Interview. Es gebe nämlich zwei rigorose Sicherheitsstufen für solche Züge. Die erste sei das Bremssystem. Wenn dieses ausfiele, haben die Zugführer die Anweisung, Führerstand und Zug umgehend und fluchtartig zu verlassen. Passieren könne eigentlich nichts, denn es gebe ja eine zweite Stufe: Die Notgleise. Dort würden die bremsfreien Züge am Ende durch einen Prellbock gestoppt.
Im geschilderten Fall allerdings griff keine der beiden Sicherheitsstufen. Der Zug überfuhr den Prellbock locker und souverän und bohrte sich wenig später ins nächste Gebäude. Das Undenkbare war passiert: Zwei Sicherheitstufen durchbrochen!
Was die Notfallplaner der Bahn offenbar nicht wussten: So ein voll beladener Güterzug mit Kohle ist ziemlich schwer. Dieser wog rund 180 Tonnen. Und hatte Tempo 70 drauf, ungefähr. 180 Tonnen! Die Vorstellungskraft des menschlichen Geistes will schier versagen ob der Aufgabe, sich die Ausmaße des Prellbocks vorzustellen, der diesen Zug abrupt stoppen könnte. Nicht so die Experten. Da steht im technischen Definitionshandbuch: Prellbock, Vorrichtung zur Notbremsung eines Schienenfahrzeugs. Was will man mehr?
Jetzt müsste man nur noch mal in Erfahrung bringen, ob die Bahn in ihren Zugrestaurants für besonders Hungrige als Hauptgang ein gekochtes Wachtel-Ei serviert. Dann hätte dies alles zumindest ein gewisses System.
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©2008 Julius Moll