Als Gesine vorschlug, in die Toskana zu fahren, war ich irgendwie erleichtert. Bei ihren Freundinnen standen zurzeit ganz andere Reiseziele auf der Tagesordnung: Je nach Jahreszeit entweder Club-Urlaub in der Türkei oder Weihnachtsmarktbesuche in Nürnberg oder Dresden. So etwas in der Art. Zeitvertreib also, den man nicht unbedingt braucht und der einem normalen Mann durchaus an die psychische Substanz gehen kann. Verglichen damit wirkte die Toskana wie ein himmlischer Ort.
Über das Transportmittel herrschte ebenfalls recht schnell Einigkeit. Ja, ich weiß: Aus ökologischen Gründen müsste man mit der Eisenbahn fahren. Dagegen spricht ja im Prinzip auch gar nichts. Doch liegt der Teufel wie so oft im Detail. Die Langstrecke an sich ist nicht das Problem; es sind die letzten 50 Kilometer. Überlegen Sie doch: Sie steigen in Pisa, Florenz, Siena oder gar Piombino aus dem Zug (immer vorausgesetzt, diese Orte sind wirklich ans Schienennetz angeschlossen), was dann? Wie geht es dann weiter?
Bus? Mit all dem Gepäck? (Und ich spreche nicht von meinem Gepäck.)
Taxi? Ich bitte Sie! Da muss man ohnehin aufpassen wie ein Schießhund, dass man nicht übers Ohr gehauen wird, und dann noch in einem fremden Sprachraum? Nein, nein.
Bliebe ein Mietwagen. Aber ich muss sagen, dass ich kein Mietwagen-Typ bin. Da weiß man doch gar nicht, welche Rabauken vorher mit dem Auto gefahren sind. Vielleicht haben sie etwas kaputt gemacht und bei der Rückgabe nichts gesagt? Dann tritt man vor der Einfahrt zu einem Weingut auf die Bremse und wundert sich, dass man ohne merkliche Verzögerung durch die Pinienallee schießt und koppheister an der nächsten Zypresse endet. Fazit: Eigener Herd ist Goldes wert, und das gilt auch fürs eigene Auto. Entweder richtig oder gar nicht.
Wir sind dann also los. Ich gebe zu: Nach einigen hundert Kilometern, spätestens kurz vor der schweizerischen Grenze, melden sich untergründig Zweifel an der Entscheidung zugunsten der Autofahrt. Aber dann: Helvetien! Hohe Berge, grüne Matten, puppenstubenartige Häuser, Serpentinen, Tunnel so lang wie die Eifel.
Und quasi anschließend: Italien. An der ersten Mautstation regt sich noch die vage Hoffnung, dass der Sprit im Preis enthalten sei. Siebenundzwanzig Mautstationen und drei Kilometer weiter hat man sich von dieser lustigen Idee verabschiedet. Und recht schnell erkennt man neidlos an, dass die Italiener diese Wegelagerei als Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip vervollkommnet haben. Kurz nach Mailand ist nämlich plötzlich Schluss mit Mautstationen auf der Autobahn. Die Erleichterung darüber hält aber nur so lange, bis man im Vorbeifahren aus dem Augenwinkel bemerkt, dass es an jeder Ausfahrt eine gibt. Ab diesem Punkt materialisiert sich im Kopf ein Zählwerk, dass gleichzeitig die Beträge der eigenen Tages- und Festgeldkonten sowie die aktuellen Aktienkurse zusammenrechnet, um festzustellen, ob man überhaupt noch in der Lage sein wird, sich an der Zielausfahrt freizukaufen.
Aber es sollte ohnehin alles anders kommen.
Wir hatten Parma hinter uns gelassen und die Berge erklommen. Von da ab ging es grundsätzlich bergab, Richtung La Spezia. Hinter einem kurzen Tunnel ein Schild: „Willkommen in der Toskana“. Und kurz nach dem Schild: Versagen der Benzinpumpe. Gesine bemerkte den Schaden, allerdings nicht am widerwilligen Ruckeln des Fahrzeugs, sondern an meinem analytischen Gesichtsausdruck.
„Alles in Ordnung?“
„Nein. Auto ist kaputt.“
Wir hatten Glück im Unglück: Knapp zwei Kilometer bergab gab es eine Autobahntankstelle. Einige Telefonate später kam die Hoffnung auf, dass es einen Abschleppdienst gebe. Einziger Haken: Es war natürlich Freitag Nachmittag. Dennoch trafen anderthalb Stunden später zwei Beauftragte der nächstgelegenen Werkstatt ein, wobei das Wort nächstgelegen relativ zu verstehen ist. Ich wunderte mich zunächst, dass auf der Ladefläche bereits ein anderes Auto mit zwei Passagieren stand, und fragte mich, wie sie uns da mitnehmen wollten. Doch die beiden Nothelfer, gekleidet in blaue Trikots ihrer Fußballnationalmannschaft, fuhren zwei Rollen aus dem Heck des Lasters. Dann schoben sie mein Auto mit den Vorderrädern darauf und hoben die Rollen hydraulisch um zwanzig Zentimeter an. Fertig. Vorderräder am Laster, Hinterräder auf der Straße. Wir würden auf jeden Fall Sprit sparen.
„Wieder in Auto!“, bedeutete der eine. „Und nix bremse! Attentione! Nix bremse!“
Nun, das leuchtete ein. Nicht bremsen! Ich bin ja nicht blöd!
Also ging es los, weiter bergab, Richtung La Spezia. Allerdings nur rund zehn Kilometer. Dann nahm der Schlepper die Ausfahrt, und während ich noch heiter dachte: „Das war ja gar nicht weit“, hielten wir an der Mautstation. Der Kassierer entpuppte sich als pflichtversessener Pedant: Er kassierte nicht nur beim Fahrer des Abschleppwagens, sondern auch bei den Menschen auf der Ladefläche und natürlich bei mir. Und ich hatte in Mailand letztmals gezahlt, was ihn zu freuen schien. Vermutlich nahm er nicht jeden Tag derartige Summen ein.
Allerdings kam ich nicht dazu, allzu sehr mit meinem Schicksal zu hadern, denn während ich missmutig nach der Werkstatt Ausschau hielt, nahm der Abschleppwagen die gegenüberliegende Auffahrt und setzte die Reise rückwärtig fort, wieder bergauf, Kilometer für Kilometer, und zwar Kilometer, für deren Befahrung ich bereits Gebühr bezahlt hatte. Mir schwante nichts Gutes.
„Wohin fahren die Männer?“ wollte Gesine verwirrt wissen.
„Zur Werkstatt natürlich. Wohin sonst?“
Nun gebe ich zu, dass diese Art der Fortbewegung gewöhnungsbedürftig ist. Man sitzt im Auto wie immer, nur ein wenig nach hinten geneigt, und fährt knapp einen Meter hinter einem Laster her, ohne dass man Geschwindigkeit, Abstand und Richtung irgendwie beeinflussen könnte. Zudem wippt das Auto bei jeder Bodenwelle sanft auf und ab. Es ist durchaus merkwürdig, wobei der Ausdruck „merkwürdig“ die Gefühle nicht exakt beschreibt. Gesine jedenfalls hatte ihr Tagebuch aus der Handtasche gezogen und begonnen, an einem Entwurf ihres Testaments zu arbeiten, wobei sie leise vor sich hin jammerte.
Mich plagten ganz andere Sorgen. Mir fiel nämlich plötzlich auf, dass ich mit den beiden Tifosi im Cockpit keinerlei Kommunikationswege vereinbart hatte. Und Kommunikation wird ja häufig unterschätzt, beispielsweise dann, wenn man mitteilen möchte, dass einem in Kürze die Blase platzen wird. Und genau dieser Notfall bahnte sich mit Macht an.
Nun hätte ich hupen können. Aber unter uns: Wir waren in Italien. Da fiel man höchstens auf, wenn man nicht hupte. Und da ich die ganze Zeit über nicht gehupt hatte, wusste ich ja bereits, dass das auch nicht helfen würde. Nun hätte ich mein Händi benutzen können, mit immerhin fast tausend Nummern im Speicher. Sie ahnen es: Die der beiden Abschlepper waren nicht darunter. Kurz beleuchtete ich noch die Idee, das Fenster herunterzukurbeln und laut zu rufen und zu gestikulieren. Aber erstens machten Fahrtwind und Abschleppwagen einen Lärm wie zwanzig Mähdrescher, so dass die Akustik als Hilfsmittel ausfiel, und zweitens war der Laster viel höher und breiter als mein Auto, so dass ich mir auch optisch wenig Aussicht auf Erfolg versprach.
Irgendwann kam dann der Moment, an dem sich die biologischen Grundmechanismen ihre Bahn brachen, der Moment, an dem ich verzweifelt die Bremse betätigte. Unser Auto sprang aus der Vorderradauflage und hüpfte zwei, drei Mal mit den Federbeinen, bis es sanft auf dem Seitenstreifen ausrollte, begleitet vom schrillen Quietschen der Bremsen des Abschleppwagens, dessen Fahrer von meiner einsamen Entscheidung ebenso überrascht worden war wie die Insassen des anderen Havaristen auf der Ladefläche, deren Auto von dem Bremsmanöver hart in die Halteketten gedrückt wurde und sich deshalb spontan entschloss, die Airbags auszulösen. Als die Nitrozellulose-Sprengsätze knallten, stand ich bereits wohlig seufzend an einem Busch neben dem Seitenstreifen und ließ die Physiologie zu ihrem Recht kommen.
Unglücklicherweise hielt in genau diesem Augenblick der körperlichen und seelischen Erleichterung ein Polizeiauto neben mir. Nach einem Versuch in italienischer Sprache versicherte mir der Carabinieri in gebrochenem Deutsch, dass ich da soeben etwas sehr Ordnungswidriges tat. Außerdem wollte er wissen, wer die bewusstlose Dame in meinem Fahrzeug sei und was ich mit ihr angestellt habe.
Um es kurz zu machen: Wenig später waren fast alle Beteiligte auf getrennten Wegen unterwegs. Der Abschleppwagen mit zwei entsetzten Passagieren nebst erschlafften Luftsäcken auf der Ladefläche in Richtung Werkstatt, mein Auto mit einem zweiten Abschleppwagen in Richtung anderer Werkstatt, Gesine mit einem Krankenwagen in Richtung Hospital, und ich mit den Carabinieri in Richtung Polizeistation.
Gesine und das Auto habe ich erst am nächsten Tag wiedergesehen. Kreislauf und Benzinpumpe liefen wieder. Wir sind dann nicht in die Toskana gefahren. Vielleicht nächstes Jahr.
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©2009 Julius Moll