Donnerstag, 20. Dezember 2007

Wild Thing


„Wild thing, you make my heart sing!“
Aus dem Etablissement dröhnten die ersten Karaoketöne des Abends heraus auf die Terrasse. Dort saß ich mit Heinz, einem deutschen Ingenieur, der bei der NASA arbeitete. Deutsche Ingenieure bei der NASA: Das hatte ja irgendwie Tradition.
Ein wunderbarer Tag neigte sich seinem Ende zu. Zweiunddreißig Grad im Schatten, wenn denn überhaupt irgendwo Schatten gewesen wäre, dunkelblauer Himmel. Das Spaceshuttle war vor ein paar Stunden gestartet, und während Heinz und ich damit beschäftigt waren, den Inhalt eines Pitchers mit einem amerikanischen Bier-Imitat in uns hineinzuschütten, sahen wir dem NASA-Frachter zu, der die beiden abgebrannten Feststoffraketen der Atlantis nach Port Canaveral zurückbrachte. Wie gesagt: ein wunderbarer Tag.

Als sich im Inneren der Kneipe eine Damencombo an „Oops, I did it again!“ versuchte, machte Heinz den dringenden Vorschlag, dass wir uns an einen anderen, gemütlicheren Ort verholen sollten. Mitunter ging der Seglerjargon mit ihm durch, aber ich wusste, was er meinte. Also machten wir uns auf den Weg zu seinem alten Oldsmobile, und knapp zehn Minuten später erreichten wir einen Ort der Subkultur, wobei man hier jetzt nicht diskutieren muss, ob eine Subkultur das Vorhandensein einer Kultur zwingend voraussetzt.
Der nämliche Ort befand sich auf der anderen Seite des Hafenbeckens von Port Canaveral, dort, wo abends die Fischer mit ihrem Fang anlegten. Am Ende des Kais gab es neben einer alten Lagerhalle eine strohgedeckte Hütte, oder besser gesagt: eine überdachte Holztheke. Da tauchte am frühen Abend immer eine junge Dame auf, begleitet von mehreren Kühltaschen, gefüllt mit Bier- und Coladosen. Amerikanisches Kleinunternehmertum vom Feinsten. Und da sie ihrem Geschäft bei Wind und Wetter nachging, wussten die Seefahrer immer, wohin sie nach Dienstschluss gehen konnten, um das Meersalz von den Geschmacksknospen zu spülen.
Und wie das so ist: Wenn sich ein Unternehmen erfolgreich ansiedelt, folgen andere. Heinz dirigierte mich umgehend zu der Lagerhalle. An der Frontseite führte eine Holzstiege hinauf ins Obergeschoss. In einem Raum, in dem früher wohl der Hallenaufseher gehaust hatte, wurden gargekochte Meeresfrüchte offeriert. Heinz orderte mehrere Portionen Krebsfleisch, randomisiert angeordnet auf Papptellern. Als Stammgast wusste Heinz, wie man weiter vorging: Er ging zu einem der roh gezimmerten Holztische, rollte einen Meter Papier von einer bereitliegenden Resterolle ab und verwandelte ihn in die Illusion einer Damasttischdecke. Und kurz darauf erwies sich auch meine Unsicherheit bezüglich fehlenden Essbestecks als unbegründet: An jedem der Tische hingen kleine Holzhämmer an Sisalfäden. Heinz griff sich einen und begann, die Krustentierteile in genießbare Einheiten zu zertrümmern. Der Geschmack passte überhaupt nicht zum Ambiente: Er war grandios! Selten habe ich besseres Krebsfleisch gegessen.

Getränke gab es allerdings nicht. Die gab es unten am Unterstand. Dort waren inzwischen einige Boote eingelaufen, und es begann der Wettbewerb „Wer hat den längsten … äh … Fisch?“ Dazu stellten sich die stolzen Seefahrer mit ihrer Beute neben einer Messlatte auf, und die umtriebige Wirtin schoss Aufnahmen mit einer Digitalkamera.
Heinz bestellte zwei Dosen Bier. Neben uns waren ein paar Männer damit beschäftigt, einen kleinen Eisenring an einem Pendel so in Bewegung zu setzen, dass er einen Nagel in einem Holzbalken traf. Wer es schaffte, kriegte eine Dose Bier.
Einer der Männer hatte ein größeres Bündel tote Fische neben sich liegen, alle so zwischen 30 und 40 Zentimeter groß. Als er mit dem Eisenring auf den Nagel zielte, sagte Heinz: ”Dein Abendessen?“ und deutete auf die Fische.
Käpten Ahab stutzte kurz. „Witzbold! Die fresse ich zum Bier.“
„Was denn, roh?“
Irgendwie gefiel mir das Leuchten in Heinz’ Augen nicht so recht.
„Na klar, roh! Wie denn sonst?“ lachte Ahab.
„Glaub ich nicht.“
Mir stockte der Atem. Die Jungs hier sahen nicht so aus, als seien sie ausschließlich zu Späßen aufgelegt.
Ahab ließ den Arm mit dem Eisenring langsam sinken und musterte Heinz mit dem Blick einer hungrigen Aspisviper. „Wie war das?“
„Glaub ich nicht“, wiederholte Heinz. Ihn schien die Situation nicht zu beunruhigen.
„Fünf Dollar, und ich zeig dir, wie ich die Viecher immer fresse!"
Mit einem kurzen Knall pfefferte Heinz einen Fünf-Dollar-Schein auf die Holztheke. Weiß der Kuckuck, wo er den so schnell hergeholt hatte.
Ahab wunderte sich darüber keine Sekunde lang. Er ließ den Ring fahren, griff sich einen der Fische und biss ihm nachdrücklich den Kopf ab. Nachdem er zwei bis drei Mal gekaut hatte, sah er Heinz triumphierend an. Und nicht nur er. Zwischen seinen Lippen hingen die beiden Fischaugen heraus und glotzten Heinz ebenfalls an.
Der grinste. „Nicht schlecht.“
„Noch mal fünf Dollar, und ich schluck’s runter“, bot Ahab mühsam artikulierend an.
Heinz brauchte fünf Millisekunden, um den zweiten Schein auf die Theke zu hauen.
Ahab begann das abstruse Werk.
Währenddessen sagte einer seiner Kumpane: „Wenn du mir auch fünf Dollar gibst, hau ich ihm eine auf die Schnauze, damit er schneller schluckt.“
Er hatte den Satz noch nicht beendet, da lag der Schein schon bereit. Und ebenso schnell kam Ahab in den Genuss der essunterstützenden Maßnahme.
Jemand anderes sagte: „Die Idioten sollte mal jemand zur Ordnung rufen!“ – und zack! lag der nächste Schein auf dem Tisch.
Fünf Minuten später war Heinz weitere acht Scheine los und die Szenerie glich dem Vorhof zur Hölle. Heinz zog mich am Ärmel hinter sich her zum Auto. Als er Gas gab, sagte er: „An dem Punkt sollte man besser gehen, da wird es ungemütlich.“
Ich war fassungslos. „Woher weißt du das?“
„Mach ich einmal die Woche. Ist doch lustig, oder?“
Ermattet sank ich im Beifahrersitz zusammen. Fünf Dollar! Da fragte man sich, wieso sich der amerikanische Verteidigungsetat der Billionengrenze näherte, wenn man mit Fünf-Dollar-Portiönchen ganze Gesellschaftsstrukturen destabilisieren konnte.
Als wir zur Karaoke-Bar zurückkehrten, intonierte ein Jungmännerchor gerade „Money for nothing“ von den Dire Straits. Das konnte ja noch heiter werden heute Abend.

--
©2007 Julius Moll

Montag, 17. Dezember 2007

Betriebsausflug


Als sich meine Gemahlin das Wadenbein brach, hatte ich gleich so ein merkwürdiges Gefühl. So, als ob das nur der Anfang von irgendetwas wäre, was ich noch nicht durchschaute. Dieses Gefühl verdichtete sich zur Ahnung, als ich zwei Tage später ins Wohnzimmer trat und Gesine zum Telefonhörer sagen hörte: „Oh, Herr Schneider, das ist aber nett von Ihnen! Schön, dass Sie das einrichten konnten. Mein Mann wird sich sehr freuen.“ Allein die Tatsache, dass ich noch nicht wusste, worauf ich mich freuen würde, legte das Gegenteil nahe.
„Worauf werde ich mich freuen?“
„Stell dir vor, Herr Schneider hat meine Buchung für die Krimi-Reise auf dich überschrieben und auch noch einen freien Platz für nächstes Wochenende gefunden. Ist das nicht toll? Du magst doch Krimis auch.“
Nun, was soll ich sagen? Hin und wieder lese ich mal einen Krimi, allerdings nicht diese skandinavisch-depressiven Sozialdramen, in denen der Ermittler selbst mit mindestens einem Bein im Knast oder in der Klapsmühle steht und wenigstens zwei uneheliche Kinder hat, von denen eines an der Spritze hängt und das andere von einem Selbstmordversuch zum nächsten hastet. Nein, eher einfach gestrickte Thriller, in denen die Weltherrschaft auf dem Spiel steht und der Held außer seinem Job nur Frauen, Autos und Martinis mit Oliven im Kopf hat. Und nun das!
Gesine hatte sich von einer Freundin belatschern lassen, an einer Krimireise in die Eifel teilzunehmen. Dort veranstaltete jemand Gruppenfahndungen nach einem Mörder, so richtig mit Tatortbegehungen, Indiziensammeln und Beweisauswertungen. Eigentlich wollte Gesine an diesem Wochenende fahren, aber die Verletzung hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und jetzt musste ich das auslöffeln.
„Aber …“
„Nichts aber! Das ist wahnsinnig nett von Herrn Schneider, dass er so kurzfristig etwas tun konnte. Schließlich hab ich schon bezahlt. Und du kannst mir ja alles haarklein erzählen.“
Genau das hatte ich befürchtet. Haarklein erzählen hieß: Haarklein aufpassen, damit mir nichts entging. Gesine hatte inzwischen eine gewisse Routine im Aufdecken von Ungereimtheiten. Dreckskrimis! Und dass ich diesen Herrn Schneider bereits jetzt abgrundtief hasste, brauche ich wohl nicht besonders betonen.

Die Krimigemeinde wohnte in einer Pension am Rande des kleinen Eifelstädtchens. Herr Schneider empfing mich überschwänglich und beeilte sich zu versichern, dass er größtes Verständnis dafür habe, wenn man wegen einer so gravierenden Verletzung seine Veranstaltung absagen müsse. Und dass es ein reiner Glücksfall sei, dass es an diesem Wochenende einen freien Platz gebe. Bei den anderen elf Gästen handele es sich um eine Gruppe, eine Art Betriebsausflug wohl, aber die Herren hätten sicher nichts dagegen, wenn ich den freien Platz einnähme.
Während ich mir Gedanken darüber machte, dass eine Gruppe Herren ein solches Arrangement buchte, wo doch über siebzig Prozent der Krimileser weiblich sind, lief ich auf dem Weg zum gemeinsamen Frühstück gleich einem der Krimiliebhaber über den Weg. Er hieß Luigi Caroni und erinnerte mich an einige der Charaktere, die ich aus meinen Thrillern kannte.
„Hengstenberg“, sagte ich. „Sehr erfreut.“
„Ah, Sie sind bestimmt der Signor, von dem Signor Schneider sprach, oder?“ Sein italienischer Akzent war unüberhörbar.
„Ja, vermutlich.“
Während er sprach, spielte er mit der linken Hand mit irgendeinem Gegenstand in der Sakkotasche seines schwarzen Anzugs. Irgendwo hatte ich das Geräusch schon mal gehört, aber ich kam nicht darauf, wo. War ja auch egal. Vermutlich war es ein Schlüsselbund.
Die anderen Herren sahen so ähnlich aus wie Herr Caroni. Außerdem hießen sie auch so ähnlich. Für einen Moment kam mir der Gedanke, dass sie zu der Inszenierung gehörten, die Herr Schneider hier aufzuführen gedachte. Aber dann trat der nämliche Herr zusammen mit seiner Assistentin in den Frühstücksraum und begrüßte die Anwesenden als Gäste, womit meine Theorie gleich wieder zusammenbrach.
„Ich freue mich sehr, dass Sie uns hier besuchen, um gemeinsam einen Kriminalfall zu lösen.“
Einige der Herren begannen zu tuscheln, und Herr Caroni, der neben mir saß, beugte sich vertraulich zu mir herüber: „Hat sehr viel Humor, il Signor Schneider, finden Sie nicht?“
„Äh, doch, doch“, erwiderte ich eilig, obwohl mir nicht so recht klar war, wie Herr Caroni dies auf Grund des geäußerten Satzes vermutete. Allerdings schien man gegenüber am Tisch eine ähnliche Meinung zu haben, denn dort grinsten zwei Kollegen vor sich hin, während sich der eine mit einem Klappmesser die Fingernägel reinigte. Jetzt fiel mir auch wieder ein, wo ich das Geräusch aus Herrn Caronis Jackentasche schon gehört hatte: In diesem Film mit Bruce Willis, in dem er einen Auftragskiller spielt und immer mit einem Schmetterlingsmesser herumfuchtelt. Langsam gab mir die Gesamtsituation zu denken.

„Wir werden an diesem Wochenende einen Mörder suchen und der Tat überführen“, erklärte Herr Schneider soeben. Ein Raunen ging um den Tisch, und elf misstrauische Augenpaare blickten unter gerunzelten Stirnen auf den Gastgeber. Mein Augenpaar hing an Herrn Caronis Lippen, die leise sagten: „Ein mutiger Mann, der Signor Schneider.“
„Ein Mord ist geschehen!“ verkündete Herr Schneider theatralisch. „Wenn wir mit dem Frühstück fertig sind, werden wir gemeinsam zum Tatort fahren und uns die Leiche näher ansehen. Vielleicht finden wir einige erste Hinweise auf den möglichen Täter.“
Luigi schlug zwei, drei Mal energisch mit seinem Siegelring gegen die Kaffeetasse. „Ich habe eine Frage, Signor Schneider. Wird die Polizei auch dort sein?“
„Äh, nein, nein, Herr Caroni, äh, wir sind ja die Polizei, gewissermaßen.“
Am Tisch brach Heiterkeit aus.
Irritiert fuhr Herr Schneider mit seiner Einführung fort. „Ja, das ist durchaus amüsant, nicht wahr? Nun ja, also, wenn wir den Tatort besichtigt und eventuelle Spuren gesichert haben, werden wir im Dorf einige Zeugen vernehmen können, um weitere Hinweise zu sammeln.“
Die heitere Stimmung verflog schlagartig. Auf der anderen Tischseite unterbrach man die Messermaniküre.
„Welche Zeugen?“ fragte Herr Caroni.
„Nun, in jedem Mordfall gibt es eine Reihe von Leuten, die sachdienliche Hinweise geben können.“ Herr Schneider hatte die Veranstaltung offensichtlich bis ins Detail vorbereitet.
„Aber wir werden sehen … Und bevor jetzt alle ungeduldig werden, schlage ich vor, wir begeben uns zum Tatort.“

Draußen warteten zwei Kleinbusse. Herr Schneider fuhr den einen, den anderen ein Herr Großkurth aus dem Dorf. Zehn Minuten später trafen wir in der Nähe des „Tatorts“ ein. Herr Schneider lotste uns einige Minuten auf einem Trampelpfad durchs Unterholz. Dann erreichten wir eine Lichtung, auf der ein alter PKW stand. Er war ausgebrannt, und es roch deutlich nach verkohlten Türdichtungen und geschmolzenem Armaturenbrett.
Herr Schneider schien irritiert. „Das verstehe ich nicht“, sagte er halblaut.
„Stimmt was nicht?“ fragte ich, Interesse heuchelnd.
„Der Wagen ist abgebrannt!“ Herr Schneider schien um Fassung zu ringen.
„Das ist nicht zu übersehen. Aber ich denke, das ist Ihr Tatort?“
„Das ist er auch. Aber der Wagen ist abgebrannt. Das … das war nicht geplant."
Ich warf einen Blick ins Innere, beziehungsweise in das, was vom Inneren übrig war. Für die „Leiche" brauchte man einen verdammt guten Gerichtsmediziner.
„Fingerabdrücke werden wir an der Leiche jedenfalls nicht finden“, scherzte ich mutig.
Herr Schneider blickte mich an wie eine Kuh, die man soeben in den Fleischtransporter zum Schlachthof eingesperrt hatte. Dann ruckte sein Blick herum zum Wrack. „Eine … eine Leiche. Da sitzt eine Leiche.“
Langsam machte mich der Mann verrückt. Erst inszenierte er hier einen Tatort und dann stammelte er herum.
„Da sitzt eine Leiche“, wiederholte er ungläubig.
„Mensch, Schneider, das sehen hier alle! Hören Sie doch mal auf zu stottern!“
Erschrocken blickte er mich an. ”Wer ist denn das da bloß?“
„Sie meinen, der da im Auto?“
Während er wortlos nickte, begann ich langsam zu begreifen, wo hier der Fehler lag. „Sie haben die Puppe da gar nicht hineingesetzt?“
Er schüttelte verzweifelt den Kopf, und wenn man sich das verkohlte Etwas auf dem Fahrersitzrest genauer besah, wurde die Verzweiflung verständlich. Es war keine Puppe.

Herr Caroni und seine Kollegen waren unterdessen recht guter Dinge und feixten herum. „Gefroren hat er sicher nicht“, sagte der mit dem Manikürestilett und grinste.
„Wahrscheinlich ein Raucher”, fügte sein Kumpel hinzu.
„Man soll eben beim Fahren nicht einpennen, vor allem nicht, wenn man dabei auch noch raucht“, gab ein dritter zum Besten.
Herr Caroni trat näher. „Nun, Signor Schneider, wie können wir jetzt … äh … Hinweise auf den Täter finden? Ist nix mehr übrig!?“
Schneider brachte immer noch kein Wort heraus.
„Vielleicht sollten wir zunächst die Zeugen fragen“, schlug Herr Caroni vor. „Sagten Sie nicht, da wären Zeugen?“
„Wir … wir müssen die Polizei rufen“, sagte Herr Schneider.
”No, no, no! Keine Polizia!" erwiderte Herr Caroni und drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger. “Wir sind doch die Polizei, haben Sie gesagt. Das genügt doch.“
Schneider hob langsam den Arm und deutete ins Auto. „Aber da ist eine Leiche!“
„Bene, aber es ist ja auch ein Tatort“, stelle Herr Caroni zufrieden fest. „Da sind oft Leichen, glauben Sie mir. Ich kenne mich da aus.“
Er erntete einen entgeisterten Blick.
„Aber …“
„Nix aber. Vertrauen Sie mir! Leichen kommen manchmal vor. Was machen wir also?“ Er drehte sich zu seinen Kollegen um. „Entdeckt jemand von Euch einen Hinweis?“ fragte er.
Der Maniküreprofi schürzte die Unterlippe: „Das war ein Volkswagen.“
"Idiot!" herrschte ihn Herr Caroni an. „Wie willst du das erkennen? Wen interessiert das? Halt den Mund und mach dir die Finger weiter sauber!" Er sah wieder zu Schneider. „Dann können wir wohl wieder fahren?“
Bei Herrn Schneider schien sich die Auffassung durchzusetzen, dass alles andere besser war als hier zu bleiben. Er nickte schwach.
Fünf Minuten später erreichten wir die Kleinbusse und hatten ein weiteres Problem: Herr Großkurth fehlte. Schneider sah erst seine Assistentin und dann mich hilflos an. Helfen konnten wir ihm aber auch nicht. Herr Großkurth fehlte weiterhin.
“Wo ist der Fahrer von Bus 2?" fragte Herr Caroni.
Schneider hob kraftlos die Schultern, aber Caronis Krimigruppe schien leicht erheitert.
„Ein elender Schwätzer“, antwortete einer der Herren namens Lombardi. „Hat während der ganzen Fahrt geredet und gefragt. Das mag ich nicht.“
„Was hast du mit ihm gemacht, Idiot? Wo ist er?" zischte Herr Caroni.
Lombardi grinste und sah in die Runde. „Das verrat ich nicht. Hier soll doch gerätselt werden.“
Neben mir fiel Herr Schneider in Ohnmacht, während einer der Krimifreunde die Assistentin einfing, die sich zur Flucht entschlossen hatte.
Caroni sah mich an. „Na, Signor Hengstenberg, wissen Sie, wo der Fahrer ist?"
Nun hatte ich so viele Thriller gelesen, dass mir die Antwort sofort parat lag.
„Welcher Fahrer?“
Caroni lächelte mich an und nickte langsam. „Ein guter Mann“, sagte er dann und tätschelte mir lobend den Oberarm. „Sehr guter Mann!“
Was soll ich sagen: Irgendwie fiel mir ein Stein vom Herzen und direkt in Herrn Caronis Brett. Aus irgendeinem Grund schien er mich zu mögen.
Eine Viertelstunde später waren wir auf dem Rückweg ins Dorf. Der vermeintlich bewusstlose Herr Schneider war auf eine der Sitzbänke verfrachtet worden und setzte während der Fahrt heimlich eine SMS ab. Wir hatten sein Haus soeben erreicht, da trafen auch schon bewaffnete Polizeikräfte ein. Glücklicherweise tat das Herrn Caronis zarten Gefühlen keinen Abbruch, denn er deutete auf den Hof hinaus, wo mein Auto stand. „Machen Sie, dass Sie wegkommen, Signor Hengstenberg. Das hier ist nichts für Sie. Va’, va’!“
Als ich auf der Autobahn war, beschlich mich das verrückte Gefühl, dass Herr Schneider ein geradezu perfektes Krimiwochenende arrangiert hatte, von der Realität quasi nicht zu unterscheiden. Vielleicht hatte ich ihm einfach Unrecht getan.
Kurz vor Abend war ich zu Hause.
„Wie war’s?“ fragte Gesine aufgeregt. „Erzähl doch! Wie waren die anderen Leute?“
„Sehr nett. Eine Gruppe Mafiakiller, die eine Leiche loswerden wollten. Nein, warte, es waren zwei Leichen. Es gab ein ziemliches Durcheinander, das in eine Schießerei mit der Dorfpolizei mündete. Dabei konnte ich entkommen und jetzt bin ich wieder hier.“
„Warum musst du immer so sarkastisch sein? Kannst du nicht einfach normal erzählen, wie es war? Und behandle mich nicht immer wie eine Idiotin, bloß weil dir mal wieder irgendwas nicht in den Kram gepasst hat!“
Na, das konnte ja noch heiter werden. Hatte ich mir eigentlich Herrn Caronis Handynummer notiert?

--
©2007 Kölnisch-Preußische Lektoratsanstalt